20.03.2023 | Evolution statt überhasteter Revolution
Die Kommission hat Vorschläge für eine Überarbeitung des Strombinnenmarktes der Europäischen Union veröffentlicht. Ziele der Überarbeitung sind der Ausbau der erneuerbaren Energien, die Entkopplung der Strom- von den Erdgaspreisen, der Schutz der Endkunden vor stark schwankenden Strompreisen und Massnahmen gegen Marktmissbrauch. Die Vorschläge stellen nicht die befürchtete überhastete Revolution dar, sondern bedeuten eine sinnvolle Evolution in mehreren Stufen.
Der EU Strombinnenmarkt ist das Ergebnis eines Reformprozesses, der sich über mehr als zwei Jahrzehnte erstreckt. Wesentliche Elemente sind der EU-weite, grenzüberschreitende Handel und die Grenzkostenpreisbildung. Nach Aussagen der Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER) hat der EU Strombinnenmarkt in seiner heutigen Form zu Effizienzgewinnen in Milliardenhöhe zugunsten der Verbraucher geführt. Im Zusammenhang mit dem Anstieg der Energiepreise und der Strompreise seit Sommer 2021 ist es aber EU-weit zu Eingriffen der EU Mitgliedsstaaten in die Preisbildung gekommen. Auf Ebene der EU wurden im Herbst 2022 vorübergehende Notmassnahmen ergriffen, insbesondere Gewinnobergrenzen für bestimmte Formen der Stromerzeugung und eine dynamische Preisobergrenze für Erdgas («market correction mechanism»); ergänzend hat der Rat die Europäische Kommission mit einer grundsätzliche Überarbeitung des Strommarktdesign der EU beauftragt. Hierauf hat die Europäische Kommission am 14. März mit der Vorlage von zwei Gesetzesvorschlägen reagiert, die Änderungen an fünf strommarktrelevanten Gesetzen anregen:
Strommarkt-Richtlinie und -Verordnung, Erneuerbare Energien-Richtlinie, REMIT-Verordnung und ACER-Verordnung. Ergänzend hat die Europäische Kommission an die EU Mitgliedsstaaten gerichtete Empfehlungen zum Ausbau von Energiespeichern vorgelegt; diese Empfehlungen sind nicht rechtsverbindlich.
Um Verbraucher zukünftig vor hohen Strompreisen und ausgeprägter Volatilität zu schützen, soll ihnen eine grössere Auswahl an Vertragsangeboten zur Verfügung gestellt werden; u. a. sollen Energieversorger dazu verpflichtet werden, Festpreisverträge mit festen Laufzeiten anzubieten. Ausserdem soll die Möglichkeit für Endverbraucher eingeführt werden, über verschiedene Stromzähler und damit verschiedene Stromlieferverträge zu verfügen, etwa zum Aufladen von Elektroautos oder zum Einsatz von Wärmepumpen.
Neben der Erweiterung der Wahlmöglichkeiten für die Verbraucher zielt die Überarbeitung auch darauf ab, das Risiko eines Lieferantenausfalls zu verringern. Hierzu sollen Energieversorger Vorgaben zu ihrer Absicherungsstrategie gemacht werden (Hedging). Weitere Vorgaben betreffen die Verpflichtung der EU Mitgliedsstaaten, Grundversorger zu bestimmen, die im Fall von Unternehmensinsolvenzen einspringen (Supplier of last resort / SLR). Weitere Massnahmen betreffen schutzbedürftige Verbraucher und deren Behandlung im Fall von Zahlungsrückständen. Im Krisenfall – der auf EU Ebene erklärt wird – werden die EU Mitgliedsstaaten ermächtigt, Endkundenpreise für Haushalte und KMUs einzuführen, die unter den Marktpreisen liegen.
Die Überarbeitung betrifft auch Regeln für die gemeinsame Nutzung erneuerbarer Energien: Verbraucher sollen zukünftig in Wind- oder Solarparks investieren und überschüssigen Solarstrom sowohl an ihren Energieversorger als auch an ihre Nachbarn verkaufen können.
Um die Flexibilität des Stromsystems zu verbessern, sollen die EU Mitgliedstaaten verpflichtet werden, den Bedarf an Flexibilitätsinstrumente abzuschätzen und die Nachfragesteuerung und Speicherung entsprechend zu fördern. Netzbetreibern wird ebenfalls auferlegt, neue Instrumente zur Nachfragereduzierung zu Spitzenzeiten einzuführen (peak-shaving). Ergänzend hat die Europäische Kommission zehn nicht rechtsverbindliche Empfehlungen zur Förderung von Speichertechnologien veröffentlicht.
Um die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie zu verbessern und ihre Anfälligkeit für Preisschwankungen zu verringern, schlägt die Europäische Kommission vor, die Rolle langfristiger Stromabnahmevereinbarungen (Power Purchase Agreements - PPA) zu stärken. Hierzu sollen unter anderem die käuferseitigen Kreditrisiken durch staatliche Massnahmen übernommen werden. Um den Stromerzeugern stabile Einnahmen zu verschaffen und die Industrie vor Preisschwankungen zu schützen, soll die staatliche Förderung von neuen Investitionen in Windenergie, Photovoltaik, Geothermie, Wasserkraft ohne Speicher und die Kernkraft nur noch in Form von zweiseitigen Differenzkontrakten (Contracts for Difference / CfDs) möglich sein. Die EU Mitgliedsstaaten werden verpflichtet, Einnahmen aus den CfDs an die Verbraucher weiterzuleiten. Darüber hinaus soll die Liquidität an den langfristigen Terminmärkten verbessert werden.
Die Überarbeitung enthält Vorschläge, um die Integration der erneuerbaren Energien zu verbessern. Dazu gehören Transparenzverpflichtungen für Netzbetreiber in Bezug auf Netzengpässe und verkürzte Handelsfristen von zukünftig maximal 30 Minuten bis zum Zeitpunkt der Lieferung (Gate closure time / GCT).
Um wettbewerbsfähige Strommärkte und eine transparente Preisbildung zu gewährleisten, werden die Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER) und die nationalen Regulierungsbehörden mit zusätzlichen Kompetenzen bezüglich der Überwachung der Energiegrosshandelsmärkte ausgestattet. Hierzu sollen auch verschärfte Vorschriften zur Datenerhebung beitragen.
Für die Schweizer Stromwirtschaft ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, dass gemäss der Überarbeitung die in der REMIT-Verordnung enthaltenen Verbote und Verpflichtungen ausdrücklich auch für Handlungen und Unterlassungen in Drittstaaten gelten sollen und die Überwachung derselben ACER übertragen wird.
Die Vorschläge der Europäischen Kommission werden nun im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens der EU unter Einbindung von Europäischen Parlament und Rat erörtert. Gemäss den politischen Absichtserklärungen der derzeitigen schwedischen Ratspräsidentschaft und von Abgeordneten des Europäischen Parlaments, sollen die Vorschläge so bald als möglich, spätestens aber in der 2. Jahreshälfte 2023 verabschiedet werden. Damit soll einerseits sichergestellt werden, dass die Vorschriften rechtzeitig zum kommenden Winter in Kraft sind; andererseits sind im Frühjahr 2024 Wahlen für das Europäischen Parlament, wodurch laufende Gesetzgebungsverfahren zum Erliegen kommen.
Unabhängig von den am 14. März 2023 vorgelegten Vorschlägen, steht eine tiefgreifende Reform des EU Strombinnenmarktes im Raum; diese könnte von der nächsten Europäischen Kommission in der 2. Jahreshälfte 2024 in Angriff genommen werden.
Mit Erleichterung hat die Energiebranche darauf reagiert, dass die Erlösobergrenze z. B. für Windkraft, PV und Wasserkraft (inframarginal revenu cap) nicht verlängert wurden. Zudem wurde – entgegen den Erwartungen der EU Mitgliedsstaaten Frankreich, Spanien und Polen sowie den Aussagen der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen – die Grundlagen des Strommarktdesign der EU nicht angerührt; dies gilt insbesondere für den kurzfristigen Stromhandel. Vorerst scheinen sich die Experten in der Verwaltung der Europäischen Kommission und die EU Mitgliedsstaaten durchgesetzt zu haben, die eine stufenweise Anpassung des Strommarktdesign an die aktuellen Herausforderungen als zielführend ansehen.
Der Ausgang des Gesetzgebungsverfahrens wird unter anderem von der Entwicklung der Energiepreise in den kommenden Wochen und Monaten abhängen: Sollte es erneut zu einem starken Anstieg verbunden mit hoher Volatilität kommen, könnten sich radikalere Ansätze durchsetzen.
EU Verordnung zur Verbesserung der Ausgestaltung des Elektrizitätsmarktes in der Union; diese enthält Änderungsanträge, die die bestehenden EU Strommarkt-Richtlinie und –Verordnung und die bestehende EU Erneuerbare Energien-Richtlinie betreffen:
https://energy.ec.europa.eu/system/files/2023-03/COM_2023_148_1_EN_ACT_part1_v6.pdf
EU Verordnung zur Verbesserung des Schutzes der Union gegen Marktmanipulation auf dem Energiegrosshandelsmarkt; diese enthält Änderungsanträge, die die REMIT-Verordnung die ACER-Verordnung betreffen:
https://energy.ec.europa.eu/system/files/2023-03/COM_2023_147_1_EN_ACT_part1_v5.pdf
«Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen zur Reform des Elektrizitätsmarktdesigns»; Dieses tritt an die Stelle der sonst üblichen Folgenabschätzung und enthält u. a. eine Auswertung der am 13. Februar 2023 abgeschlossenen, öffentlichen Vernehmlassung:
«Empfehlung der Kommission vom 14.3.2023 zur Energiespeicherung - Grundlage für ein dekarbonisiertes und sicheres EU-Energiesystem»; die 10 Empfehlungen wenden sich an die EU Mitgliedsstaaten und sollen den ausreichenden Ausbau von Energiespeichern sicherstellen:
https://energy.ec.europa.eu/system/files/2023-03/C_2023_1729_1_EN_ACT_part1_v6.pdf
Ergänzt werden die Empfehlungen mit einem «Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen zur Energiespeicherung - Grundlage für ein dekarbonisiertes und sicheres EU-Energiesystem»: