18.07.2023 | Umweltpolitik spaltet Europäisches Parlament
Am 12. Juli 2023 stimmte das Plenum des Europäischen Parlaments in Strassburg für das EU-Renaturierungsgesetz. Die Abstimmung erfolgte nach hitzigen Diskussionen bezüglich der Wechselwirkung von Klimaschutz, Biodiversität und dem Ausbau der erneuerbaren Energien. Mit der Annahme ist der Weg frei für die nächste Stufe im Gesetzgebungsverfahren - der Trilog: Der Rat - als Vertreter der EU-Mitgliedstaaten - und das Europäische Parlament müssen nun einen Kompromiss finden. Die europäische Energiewirtschaft scheint ob der Auswirkungen des Gesetzes gespalten.
Das EU-Renaturierungsgesetz ist ein Kernelement des Europäischen Green Deals, eine der obersten politischen Prioritäten der derzeitigen van der Leyen-Kommission. Der ursprüngliche Vorschlag wurde am 22. Juni 2022 veröffentlicht und zielt darauf ab, die biologische Vielfalt in der EU zu erhalten und zu erhöhen: Er kombiniert ein übergreifendes Wiederherstellungsziel für die Natur an Land und in Meeresgebieten mit verbindlichen Wiederherstellungszielen für bestimmte Lebensräume und Arten. Diese Massnahmen sollen bis 2030 mindestens 20 % der Land- und Meeresflächen der EU und bis 2050 alle sanierungsbedürftigen Ökosysteme abdecken. Neben der Erhaltung der biologischen Vielfalt sollen die zurückgewonnenen Flächen auch Kohlenstoff binden und speichern und die Auswirkungen von Naturkatastrophen verringern. Da es sich um eine EU-Verordnung handelt, haben die EU-Mitgliedstaaten nur begrenzten Spielraum bei der Umsetzung.
Möglicherweise inspiriert durch die seit 2019 laufenden Proteste niederländischer Landwirte gegen die EU-Grenzwerte für Stickstoffemissionen, die sich im März 2023 in Wahlerfolgen für die Anti-Establishment-Partei BoerBurgerBeweging (BBB) niederschlugen, wurde das EU-Renaturierungsgesetz in eine Grundsatzdebatte um die Vereinbarkeit von Umweltschutz, Klimapolitik und anderen politischen Zielen hineingezogen. Angesichts der am 6. bis 9. Juni 2024 anstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament sowie einer Reihe weiterer entscheidender nationaler Wahlen (z. B. Spanien, Slowakei, Niederlande, Polen, Belgien) brach die zentristische Europäische Volkspartei (EVP) - unter der Führung des Europaabgeordneten Manfred Weber (CSU, DE) - das informelle Bündnis pro-europäischer Parteien bestehend aus der liberalen RenewEurope, den linken Sozialisten & Demokraten und den Grünen, und versuchte einer Mitte-rechts Mehrheit mit Teilen der liberalen RenewEurope, den Europäischen Konservativen und Reformisten (ECR) und der rechten Partei Identität und Demokratie (ID) zu bilden. Möglicherweise bereitet sich Weber auf eine Mitte-Rechts-Koalition im nächsten Europäischen Parlament vor, was sich auch auf die politischen Prioritäten der nächsten Europäischen Kommission (2024 - 2029) auswirken könnte.
Nach langwierigen Verhandlungen und turbulenten Abstimmungen im Umweltausschuss des Europäischen Parlaments wurde das EU-Renaturierungsgesetz am 13. Juli 2023 im Plenum des Europäischen Parlaments mit 336 Ja-Stimmen bei 300 Nein-Stimmen und 13 Enthaltungen angenommen. Um unentschlossene Abgeordneten des Europäischen Parlaments für sich zu gewinnen, reduzierte das Europäische Parlament u. a. das Ziel der Wiederherstellung von Flussökosystemen auf 20’000 Kilometer bis 2030 (anstatt der von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen 25’000 Kilometer). Die konservativen Abgeordneten konnten ausserdem einen Änderungsantrag einbringen, der eine Verschiebung der Biodiversitätsziele für den Fall vorsieht, dass in der EU "aussergewöhnliche sozioökonomische Umstände" herrschen: Dies wäre z. B. dann der Fall, wenn es zu einem Konflikt zwischen dem EU-Renaturierungsgesetz und dem Ausbau der erneuerbaren Energien im Rahmen nationaler Genehmigungsverfahren kommt.
Der Rat hatte seinen Standpunkt - die Allgemeine Ausrichtung - am 20. Juni 2023 festgelegt: Um ein Gleichgewicht zwischen Biodiversität und dem Ausbau der erneuerbaren Energien zu finden, wurde ein neuer Artikel eingeführt, wonach die Planung, der Bau und der Betrieb von Anlagen zur Erzeugung von erneuerbarer Energie, ihr Anschluss an das Netz und das damit verbundene Netz selbst sowie Speicheranlagen von übergeordnetem öffentlichen Interesse sind. Ausserdem gelten Ausnahmen für erneuerbare Energien im Rahmen der sog. strategischen Umweltprüfungen.
Nach Ansicht des europäischen Stromverbands Eurelectric gibt es keinen zwingenden Widerspruch zwischen Klimaschutz, dem Ausbau der erneuerbaren Energien und der Schutz der biologischen Vielfalt; derzeit bestünde jedoch noch Verbesserungsbedarf am Entwurf des EU-Renaturierungsgesetz. Auslöser für die Bedenken seitens Eurelectric könnten insbesondere die Auswirkungen auf die Wasserkraft sein; so könne die vorgeschlagene Definition von "frei fliessenden Gewässern" zu regulatorischer Unsicherheit für Wasserkraftbetreiber führen. WindEurope und SolarPower Europe hingegen begrüssen das EU-Renaturierungsgesetz, zumal es gut mit der laufenden Reform der EU-erneuerbare-Energien-Richtline (RED) abgestimmt sei. Infolgedessen stelle das EU-Renaturierungsgesetz keine Bedrohung für die Entwicklung der Photovoltaik und der Windenergie dar.
Es bleibt zu hoffen, dass während der Trilog-Verhandlungen ab September 2023, die richtigen Kompromisse im Hinblick auf den Ausbau der erneuerbaren Energien gefunden werden. Viel hängt von der derzeitigen spanischen Ratspräsidentschaft ab, die das EU-Renaturierungsgesetz zu einer ihrer Prioritäten erklärt hat. Vorausgesetzt die derzeitige spanische Regierung übersteht die am 23. Juli 2023 stattfindenden Wahlen ...