15.07.2022 | Wo landen die grünen Milliarden?

Nachhaltigkeit im Finanzwesen: Kernkraft & Erdgas = «grün»?

Eberhard Röhm-Malcotti

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Mit dem Europäischen Grünen Deal hat sich die EU das Ziel gesetzt, bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent der Welt zu werden. Die hierfür erforderlichen umfangreichen Finanzmittel sollen sowohl durch Subventionen, vor allem aber durch private Investoren bereitgestellt werden. Mit der EU Strategie für ein nachhaltiges Finanzwesen will die EU einen attraktiven Rahmen für grüne Investitionen schaffen. Kernelement ist die Taxonomie-Verordnung der EU; diese bestimmt, was «nachhaltige wirtschaftliche Tätigkeiten» sind – was also grün und damit förderungswürdig ist. Die umstrittene Frage, ob die Stromerzeugung mittels Kernkraft und mittels Erdgas grün ist, ist seit 11. Juli 2022 entscheiden.

Was bisher geschah

Am Freitag, den 31. Dezember 2021, dem letzten Tag des Jahres, hatte die Europäische Kommission den Entwurf eines delegierten Rechtsakts den EU Mitgliedsstaaten zugestellt, der die Stromerzeugung mittels Kernkraft und mittels Erdgas unter bestimmten Bedingungen als «Übergangstätigkeiten» im Sinne der Taxonomie-Verordnung einstuft. Damit könnten Gelder aus als grün vermarkteten Finanzprodukten, z. B. zum Bau von Kernkraftwerken oder von Gaskraftwerken eingesetzt werden. 

Kernkraft

Gemäss dem Entwurf des delegierten Rechtsakts könnten Investitionen in den Neubau von Kernkraftwerke als grün gelten, sofern unter anderem für die sichere Entsorgung radioaktiver Abfälle gesorgt und spätestens bis 2050 das erforderliche Endlager in Betrieb ist; die Endlagerung muss in der EU erfolgen. Allerdings gilt dies nur übergangsweise: Die neuen Kernkraftwerke müssen vor 2045 genehmigt werden. Neben Investitionen für den Neubau von Kernkraftwerken können auch Investitionen zur Finanzierung von Laufzeitverlängerungen als grün eingestuft werden, sofern hierbei höchste Sicherheitsstandards erreicht werden. Zum Leid der Kernkraft gelten Investitionen in den Kernbrennstoffkreislauf als Ganzes nicht als grün, dafür aber die Herstellung von Wasserstoff mit Strom aus neuen Kernkraftwerken. Letzteres könnte einen Paradigmenwechsel beim Aufbau einer Europäischen Wasserstoffwirtschaft bedeuten. Für die Kernkraft gilt der allgemeinen Emissionsgrenzwert der EU Taxonomie von 100gCO2e/kWh.

Erdgas

Gaskraftwerke können gemäss Entwurf des delegierten Rechtsakts den allgemeinen Emissionsgrenzwert von 100gCO2e/kWh überschreiten und trotzdem als grün im Sinne der EU Taxanomie bezeichnet werden, sofern sie vor 2031 genehmigt werden und folgende, alternative Emissionsgrenzwerte einhalten:

  • Höchstens 270 gCO2e/kWh – sofern das Gaskraftwerk ein umweltschädlicheres, fossiles Kraftwerk ersetzt und dies die Emissionen um mind. 55% / kWh reduziert.
  • Höchstens 550 kg CO2e/kW/Jahr – und zwar im Durchschnitt über einen Zeitraum von 20 Jahren.

Weitere Auflagen betreffen z. B. das Ausmass der verursachten Methanemissionen oder den Einsatz erneuerbarer und kohlenstoffarmer Moleküle (Biogas, Wasserstoff): Ab 2026 müssen mindestens 30% der eingesetzten Moleküle erneuerbar oder kohlenstoffarm sein und ab 2036 muss deren Anteil 100% betragen.

Nach Einschätzungen der Gasbranche, sind die anspruchsvollen Vorgaben für Gaskraftwerke nur zu erreichen, indem die Gaskraftwerke mit erneuerbaren oder kohlenstoffarmen Molekülen und als Wärmekraftkopplungsanlagen (WKK) betrieben werden. Dies entspricht zwar den Zielen der Europäischen Kommission, die einerseits den Gassektor dekarbonisieren und andererseits den Anteil der erneuerbaren Energien im Gebäude Bereich erhöhen will; fraglich ist aber, ob bis 2026 bereits ausreichend grüne bzw. kohlenstoffarme Moleküle, z. B. Wasserstoff, verfügbar sein werden.

Rollenverteilung

Umweltschutzverbände und teilweise auch die Vertreter der (nachhaltigen) Finanzdienstleistungsindustrie werfen der Europäischen Kommission vor, mit dem Einbezug von Kernkraft und Erdgas die Glaubwürdigkeit der Nachhaltigkeitsstrategie der EU zu untergraben und lehnen den delegierten Rechtsakt grundsätzlich ab; anders stellt sich die Lage bei der Mehrheit der EU Mitgliedsstaaten dar: Viele begrüssen den Einbezug der Kernkraft. So hat sich insbesondere Frankreichs Präsident Macron klar zugunsten des Ausbaus der Kernkraft positioniert: Nur mit der Kernkraft könne der Kampf gegen den Klimawandel gewonnen, eine zuverlässige Energieversorgung sichergestellt und niedrige Strompreise für Haushalte und Industrie erzielt werden. Frankreich hatte bis Ende Juni 2022 die 6-monatige EU-Ratspräsidentschaft inne. Am 1. Juli 2022 hat die ebenfalls kernkraftfreundliche Tschechische Republik die EU Präsidentschaft übernommen. 

Subventionen für Kernkraft und Erdgas?

Für kernkraftfreundliche EU Mitgliedsstaaten und für die EU Mitgliedsstaaten, die im Rahmen der Energiewende auf Erdgas angewiesen um aus der Kohleverstromung auszusteigen, ist die Taxonomie aber noch aus einem weiteren Grund von Bedeutung: Zukünftig stehen neben privatem, grünen Kapital auch EU- und nationalstaatliche Subventionen zur Verfügung, um z. B. die von Präsident Macron angekündigten neuen Kernkraftwerke in Frankreich zu bauen. Manche hoch verschuldeten Mitglieder der Euro-Zone hoffen zudem, dass Investitionen in grüne Technologien im Rahmen der Euro-Stabilitätskriterien privilegiert behandelt werden.  

Zwischen allen Stühlen sitzt Deutschland: Nach dem Ausstieg aus der Kernkraft – der bis Ende 2022 Jahres vollzogen wird, will die Ampel-Koalition noch schneller aus der Kohleverstromung aussteigen, idealerweise bereits in 2030 statt in 2038. Nach Ansicht der Koalitionspartner SPD und FDP braucht es dafür Gaskraftwerke. Dieser weg ist aber mit dem Krieg in der Ukraine versperrt, da Deutschland nun so schnell möglich den Erdgasverbrauch drosseln muss.

Kein Veto bis 11. Juli 2022 

Delegierte Rechtsakte werden im sogenannten Komitologie-Verfahren verabschiedet: Dabei haben die gesetzgebenden Kammern (Europäisches Parlament, Rat) lediglich ein Vetorecht, das heisst sie können den delegierten Rechtsakt nur verhindern - aber nicht ändern. Frist für das Einlegen des Vetos war der 11. Juli 2022. Die Europäische Kommission hatte taktisch klug die Kernkraft mit Erdgas gebündelt. Diese Rechnung ging auf und nach informellen Sondierungen durch die französische Ratspräsidentschaft war klar, dass die Gegner von Kernkraft und Erdgas zusammen niemals die erforderlichen 20 von 27 Stimmen im Rat erreichen würden. Entsprechend wurde im Rat auf eine Abstimmung verzichtet.

Im Europäischen Parlament kam es hingegen am 6. Juli 2022 zu einer Abstimmung über ein mögliches Veto: Bis kurz vor der Abstimmung war unklar, ob die Gegner von Kernkraft und/oder Erdgas die erforderliche absolute Mehrheit von 353 Stimmen erreichen würden. Eine zusätzliche Dynamik ergab sich aus dem Krieg in der Ukraine und dem u. a. von Vertretern der Ukraine erhobenen Vorwurf, dass mit Investitionen in Erdgas die russische Kriegskasse finanziert würde. Schliesslich gelang es der Fraktion der Grünen und der Sozialdemokraten nicht, die erforderliche Mehrheit zu erreichen: Es fehlten 75 Stimmen um den delegierten Rechtsakt zu stoppen. 

Wie geht es nun weiter?

Der delegierte Rechtsakt kommt ab Januar 2023 zur Anwendung. 

Österreich hat bereits angekündigt vor dem EuGH gegen den delegierten Rechtsakt Klage zu erheben; ein möglicher Mitstreiter ist Luxemburg.

Auswirkungen auf die Schweiz

Die Taxonomie betrifft nur Kernkraftwerke und Erdgasinfrastruktur in der EU; grundsätzlich ergibt sich hieraus ein potentieller Vorteil für entsprechende Projekte in der EU, die um internationale Investitionen buhlen.

 

 

Link zum delegierten Rechtsakt und den Anhängen 1 bis 3: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=PI_COM:C(2022)631&from=EN

Delegierte Rechtsakte:

Bei einem Delegierten Rechtsakt wird die Europäische Kommission vom Europäischen Parlament und von den EU Mitgliedsstaaten beauftragt, Rechtsakte in Form einer Verordnung zu erlassen, die der Änderung oder Ergänzung von nicht wesentlichen Aspekten von EU Recht dienen, ähnlich einer Verwaltungsvorschrift. Oftmals werden jedoch politisch heikle Regelungsinhalte – bei denen sich im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren der EU keine Einigung finden lässt – in dieses sogenannte Komitologie-Verfahren ausgelagert, da es hinter verschlossenen Türen stattfindet.

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