05.09.2024 | Auslöser für den zweijährigen Bauunterbruch an der Stauanlage Gigerwald im Winter 2022/23 war eine drohende Strommangellage

Eine Baustelle erwacht aus dem Dornröschenschlaf

Auslöser für den zweijährigen Bauunterbruch an der Stauanlage Gigerwald im Winter 2022/23 war eine drohende Strommangellage. Nun soll die obere Staustufe der Kraftwerke Sarganserland definitiv einen angepassten Grundablass erhalten. Die terminkritischen Arbeiten starten Ende September 2024. Die Wiederinbetriebnahme des Pumpspeicherwerks ist Ende Mai 2025 geplant.

Verbannt zur Untätigkeit harrten die beiden feuerroten Baukräne auf der Staumauer Gigerwald zwei Jahre lang der Dinge. Nun bewegen sie ihre schlanken Glieder wieder in alle Himmelsrichtungen und hauchen der Baustelle im schroffen Calfeisental neues Leben ein. Matthias Kohler legt den Kopf in den Nacken und blickt die 147 Meter hohe Bogenstaumauer hoch. Der Betriebsleiter der Kraftwerke Sarganserland steht talseits auf dem grossen Installationsplatz, der aus seinem Dornröschenschlaf erwacht. Schritt für Schritt finden die winterfesten Fachkräfte mit ihren Gerätschaften zurück an ihre Wirkungsstätte. «Auch der riesige Seilbagger ist zurück», sagt Matthias Kohler mit einem Schmunzeln.

Kaum eingetroffen, liess der imposante Kraftprotz auf dem Bauplatz seine Muskeln spielen. «Ohne ihn könnten wir die teilweise schweren Bauteile nur schlecht bewegen.» Parallel dazu wurde das Containercamp wiederbelebt. Matthias Kohler betont: «Komfortable Aufenthaltsräume spielen eine wichtige Rolle für den Bautrupp, der seine Arbeit auch bei Minustemperaturen an sechs Tagen der Woche im Zweischichtbetrieb verrichtet.» Für das leibliche Wohl der hungrigen Männer sorgt das Berggasthaus Gigerwald. 

Baustopp im Dienst der Schweizer Stromversorgungssicherheit

Rund 50 Mitarbeitende werden von September 2024 bis Frühsommer 2025 zu Ende bringen, was vor zwei Jahren ein abruptes Ende gefunden hatte. Nach ersten Vorbereitungen während der Sommermonate hatte Axpo im Herbst 2022 die Reissleine gezogen und das 25 Millionen Franken teure Projekt gestoppt. Grund dafür war eine drohende Strommangellage für den Winter 2022/23, was die flexible Stromproduktion des Pumpspeicherwerks, insbesondere zu Spitzenverbrauchszeiten, unentbehrlich machte.

Mehrere Faktoren waren für die unerwartete Stromknappheit verantwortlich. Nach dem Kriegsausbruch zwischen Russland und der Ukraine im Frühjahr 2022 floss nur noch wenig Gas nach Westeuropa, was in europäischen Gaslagern zu historisch tiefen Füllständen führte. Das Gas fehlte zum Heizen, aber auch zur Stromproduktion. Zudem gab es technische Probleme in einigen französischen Kernanlagen, was die Winterstromproduktion weiter zu schmälern drohte und für zusätzliche Unsicherheiten sorgte.

10 Millionen Franken kostete der Baustopp. Demgegenüber wurde im hochpreisigen Marktumfeld des Winters 2022/23 für den in den Kraftwerken Sarganserland produzierte Strom zweifellos ein attraktiver Preis bezahlt. «Im Vordergrund stand für uns aber stets, das Netz stabil zu halten und auf Schweizer Boden unseren Beitrag an ein funktionierendes Stromsystem zu leisten», bekräftigt Matthias Kohler. Hinter dem grössten Schweizer Pumpspeicherwerk Linth-Limmern (1000 MW) im Kanton Glarus sind die Kraftwerke Sarganserland mit einer Leistung von 300 MW die Nummer Zwei in der Nordostschweiz und eine der grössten Pumpspeicheranlagen der Schweiz.  

Mit dem erneuten Baustart findet das Projekt nun seine Fortsetzung. Matthias Kohler: «Wir ziehen die bestehenden Pläne tatsächlich 1:1 wieder aus der Schublade.» Der Zeitplan sieht vor, innerhalb von sieben Monaten das Einlaufbauwerk sowohl für den Grundablass als auch den Triebwassereinlauf höherzulegen. 

Höherlegung und Trennung der Einlaufbauwerke

Sand und Kies aus den Zuflüssen haben den Stausee Gigerwald in den bislang 48 Betriebsjahren fortschreitend verlanden lassen. «Viele Wasserkraftwerke sehen sich mit diesem Phänomen konfrontiert», erklärt Matthias Kohler. Weil das Ausbaggern des Stausees und andere Varianten als nicht praktikable Optionen verworfen wurde, kam nur das Höherlegen der Einlaufbauwerke in Frage.

18 respektive 23 Meter höher, so hoch wie ein achtstöckiges Mehrfamilienhaus, kommen die neuen Einlaufbauwerke für den Grundablass und das Triebwasser zu stehen. «Damit können wir den sicheren Betrieb des Grundablasses für die nächsten Jahrzehnte sicherstellen.» Der Grundablass ist – ähnlich einem Badewannenstöpsel – die unterste, verschliessbare Öffnung einer Stauanlage und muss jederzeit zur Verfügung stehen.

Die Kraftwerke Sarganserland nehmen die Sanierung zum Anlass, um das bislang gemeinsame Einlaufbauwerk für Grundablass und Triebwasser für den künftigen Gebrauch zu trennen. In der Marti Tübbingwerk AG, einer Tochterfirma der Marti Tunnel AG, in Balsthal liessen die Projektleiter Betonfertigteile erstellen, die allen Geometrieansprüchen und Qualitätsanforderungen gerecht werden. Dank diesen Elementen kann die Bauzeit verkürzt werden. «Schön ist, dass wir in der Schweiz eine massgeschneiderte Lösung gefunden haben.» Tübbinge werden traditionell als Betoninnenverschalung von Tunneln eingesetzt. Für die neuen Einlaufbauwerke werden die speziell gegossenen Fertigteile direkt vor Ort zusammengesetzt, verschraubt und fertig betoniert. Matthias Kohler schlendert zum Lager mit 73 Betonelementen, einzelne so hoch wie ein Einfamilienhaus: «Alles Unikate. Kein einziges Bauteil ist gerade, jedes ist verwunden und schräg. Das ist anspruchsvoll und brauchte hohe Vorfertigungskunst.» 

Arbeiten starten unter Wasser

Fünf Serpentinenkurven weiter oben öffnet sich der Blick auf den glitzernden Stausee Gigerwald. Seit ein paar Wochen sinkt der Wasserspiegel kontinuierlich. Trotzdem fangen die ersten Arbeiten noch unter Wasser an. «Wir müssen die Betondecke des Einlaufbauwerks von Sedimenten befreien.» Das tönt einfacher, als es ist. «Ein Mitarbeiter der Bauunternehmung hat extra eine Vorrichtung konstruiert, mit welcher sich eine grosse Baggerschaufel vom Kran aus bedienen lässt.  Per Kran erfasst die Schaufel den Kies und deponiert ihn nach einem Schwenk woanders im See.»

Wenn der Wasserspiegel Ende September soweit gesunken ist, dass die Betondecke an der Luft ist, gehen die Bohrarbeiten für das Öffnen der Decke des bestehenden Bauwerks los. «Bis zu diesem Zeitpunkt nutzen wir das zufliessende Wasser noch zur Stromproduktion.» Ist der See leer, geht die Anlage definitiv ausser Betrieb. Alle natürlichen Zuflüsse in den Stausee werden in der Folge vor dem Einlaufbauwerk gestaut und kanalisiert durch die Baustelle hindurchgeführt. Mit diesem Wasser produziert die untere Kraftwerksstufe Sarelli den Winter hindurch in reduziertem Umfang Strom. 

Zeitfenster für Revisionsarbeiten

Die Sanierung des Stauanlage Gigerwald nutzt Matthias Kohler für wichtige Revisionsarbeiten an Anlagenteilen der oberen Kraftwerksstufe. «Wir arbeiten uns durch eine lange Liste von Instandhaltungsprojekten», lacht der Betriebsleiter. Sobald der Baufortschritt es zulässt, demontieren und revidieren Spezialisten die Schieber des Grundablasses, die seit 48 Jahren zuverlässig in Betrieb waren. Die Anlage erhält zudem teilweise neue Drosselklappen mit neuer elektrischer und hydraulischer Steuerung.  

Hoffen auf einen milden und trockenen Winter

In den Wintermonaten sind Lawinenniedergänge aus den Steilhängen rund um den Stausee Gigerwald kein Grund zur Sorge, so lange die Zufahrtsstrasse bis zur Staumauer nicht betroffen ist. «Jetzt liegt der Fall natürlich anders», erklärt Matthias Kohler und blickt zur Gigerwaldspitze, die 2292 Meter hoch über der Westseite der Staumauer thront. Sollte der Winter schneereich sein, drohen auf der Zufahrtsstrasse und auf den baustelleninternen Verbindungen Lawinen. «Wir hoffen deshalb auf einen schneearmen Winter.» Eine extra eingesetzte Lawinenkommission wird die Lage rund um die Baustelle und auf den Zufahrtsstrassen während der kritischen Zeit im Blick behalten und wenn nötig Anordnungen treffen.

Meilenstein an Weihnachten

Ende April 2025 will Matthias Kohler den See wieder auffüllen. «Wir möchten das Schmelzwasser aus den Bergen für den Aufstau nutzen.» Ob der Plan aufgeht, wird sich an Weihnachten zeigen. Bis dahin sind die zeitkritischen Rückbauarbeiten am Grundablass im Gang. «Es ist einfach: Verzögert sich die Fertigstellung des Grundablasses, kann das den Zeitplan für den Aufstau ungünstig beeinflussen.»

Ist das grüne Licht im Frühling da, benötigt der Stausee rund sieben Tage, bis der Wasserspiegel die Unterkante der Triebwasserfassung erreicht. Anschliessend wird das Triebwassersystem wieder in Betrieb genommen und die Maschinen im Kraftwerk Mapragg sind wieder einsatzfähig. Dann kann Matthias Kohler zusätzliches Wasser in den Stausee Gigerwald hochpumpen, damit der See so rasch als möglich wieder in seiner vollen Pracht glitzert. Wenn das Pumpspeicherwerk voraussichtlich Ende Mai 2025 wieder ans Stromnetz geht, dürften die roten Baukräne ihre Arme längst anderswo ausstrecken. 

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