19.10.2023 | Die Zukunft des Schweizer Strommarktes nach Mantelerlass
Das Parlament hat am 29. September 2023 den Mantelerlass verabschiedet, mit dem die gesetzlichen Fundamente des Schweizer Strommarktes revidiert werden. Doch was ändert sich wirklich? Die neuen Bestimmungen setzen einen wichtigen Akzent für den Ausbau erneuerbarer Energien. Leider wurde mit dem Ausbleiben der vollständigen Marktöffnung eine wichtige Weichenstellung verpasst.
Mit dem sogenannten Mantelerlass (Revisionen Stromversorgungsgesetz & Energiegesetz) hat das Parlament am 29. September 2023 das für den Schweizer Strommarkt wohl wichtigste Gesetzespaket der letzten Jahre verabschiedet. Dies, nachdem die letzten Differenzen zwischen den Räten in der Herbstsession bereinigt werden konnten. Seit einem Jahr hatten die Räte über die sehr umfangreiche Vorlage beraten und im Vergleich zur ursprünglichen Botschaft des Bundesrates zahlreiche Änderungen vorgenommen.
Ambitionierte Ziele
Überbau des Mantelerlasses bilden die neuen Ziele für den Ausbau erneuerbarer Energien. So sollen bis im Jahr 2035 insgesamt 35 TWh neue erneuerbare Stromproduktion (Solar, Wind & Biomasse) entstehen, bis im Jahr 2050 sogar 45 TWh. Das ist eine enorme Herausforderung. Zum Vergleich: die jährliche Stromproduktion neuer erneuerbarer Energien (ohne Wasserkraft) beträgt aktuell nur rund 8 TWh; der gesamte jährlich Stromverbrauch der Schweiz rund 62 TWh. Die Stromproduktion aus Wasserkraft soll aufgrund des weitgehend ausgeschöpften Potenzials nur leicht erhöht werden, wobei es zukünftig Verluste von 2-7 TWh als Folge der verschärften Restwasserbestimmungen zu kompensieren gilt. Ziele gibt es auch bezüglich des Nettoimportvolumens von Elektrizität im Winter, welches 5 TWh nicht überschreiten soll. Zuletzt sollen auch der Gesamtenergieverbrauch und der Stromverbrauch pro Person bis 2035 um 43 Prozent resp. 13 Prozent gesenkt werden.
Bessere Rahmenbedingungen für erneuerbare Energien
Um den Ausbau erneuerbarer Energien zu stimulieren sind verschiedene Massnahmen vorgesehen.
Erstens wurden die Rahmenbedingungen für Gross-Anlagen verbessert. Die Kantone sollen Gebiete für erneuerbare Energien – neu auch explizit Solaranlagen – ausweisen. Solar- und Windanlagen in diesen Gebieten wird grundsätzlich übergeordnetes Interesse zugesprochen, was ihre Chancen in der Abwägung mit Natur- und Umweltschutzinteressen verbessert. Bei der Wasserkraft wurde eine Liste von 16 Projekten (Runder Tisch Wasserkraft & Projekt Chlus) mit insgesamt 2 TWh zusätzlichem Winterstrompotential ins Gesetz aufgenommen, welche von Bewilligungserleichterungen profitieren. Flankierend dazu wurden gezielte Ausnahmen vom Bauverbot für erneuerbare Energien in Schutzgebieten geschaffen und das nationale Interesse erneuerbarer Energien generell gestärkt.
Zweitens wurde mit der gleitenden Marktprämie ein alternatives Förderinstrument geschaffen, welches eine Absicherung gegen schwankende Marktpreise und damit Projektanten von Gross-Anlagen mehr Investitionssicherheit bietet. Sie beinhaltet mit dem sog. Winterbonus auch einen Anreiz für mehr Winterstromproduktion. Um die Finanzierung der Fördermittel zu flexibilisieren, wurde zudem die Möglichkeit zur Verschuldung des Netzzuschlagsfonds geschaffen.
Drittens sind auch für kleinere Anlagen Bewilligungserleichterungen vorgesehen. So sind Anlagen auf genügend angepassten Dächern oder Fassaden per Gesetz nicht mehr bewilligungspflichtig, auf grösseren Parkplätzen grundsätzlich zonenkonform und auch ausserhalb der Bauzone mit gewissen Kriterien bewilligungsfähig. Die aktuell befristete Solarpflicht für Neubauten ab 300 m2 wird verstetigt, eine Ausweitung (u.a auf Sanierungen) konnte sich im Parlament aber schlussendlich nicht durchsetzen.
Viertens wird eine schweizweit einheitliche Rückliefervergütung für erneuerbare Energien eingeführt. Diese orientiert sich grundsätzlich am vierteljährlich gemittelten Marktpreis. Für kleine Solaranlagen (<150 kW) ist allerdings eine Mindestvergütung (aber keine Maximalvergütung) vorgesehen, welche sich an den Gestehungskosten von Referenzanlagen orientiert. Die mit einer Mindestvergütung verbundenen Förderung in Tiefpreisphasen geht zulasten der Verbraucher in der Grundversorgung, wo dieser Strom abgesetzt werden soll.
Keine vollständige Marköffnung
Im Parlament chancenlos war die vollständige Marktöffnung. Haushalte und kleinere Verbraucher werden somit ihre Lieferantin auch in Zukunft nicht wählen können. Die Ablehnung bedeutet zum einen, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher weiterhin der Beschaffungsstrategie ihres Monopolversorgers ausgeliefert sind. Zum anderen wäre die vollständige Marktöffnung die Basis für mehr Innovation (z.B. Stromprodukte und Gesamtlösungen) und die - immer wichtig werdende - Erschliessung von Verbrauchsflexibilität gewesen.
Als eine «Marktöffnung light» wird jedoch die Bildung von lokalen Elektrizitätsgemeinschaften (LEG) erlaubt, mit denen sich Verbraucher und Erzeuger zusammenschliessen können. Im Gegensatz zu bestehenden Eigenverbrauchslösungen können die Teilnehmer den internen Strom auch über das öffentliche Verteilnetz austauschen und erhalten dabei einen Abschlag auf die Netznutzungstarife. Die Ausdehnung solcher LEGs wurde per Gesetz auf «maximal das Gebiet einer Gemeinde» beschränkt.
Angepasst wurden zudem die Vorgaben für Beschaffungen zur Belieferung der Grundversorgung. Die von der Branche kritisierte Durchschnittspreismethode, welche durch die Vermischung der Beschaffungen für die Grundversorgung und den freien Markt zu Verzerrungen führt, wurde abgeschafft und mit einem alternativen System ersetzt. Neu sollen die Versorger nach Segment separat beschaffen und dabei einen vom Bundesrat festgesetzten Mindestanteil der (allfälligen) eigenen Produktion in der Grundversorgung einrechnen. Zudem soll über die Eigenproduktion hinaus bis zu einem weiteren Mindestanteil die Energie aus Langfristverträgen mit erneuerbaren Stromproduktion im Inland stammen. Als weitere Vorgabe müssen Versorger ein Standardprodukt aus «insbesondere» inländischen erneuerbaren Energien anbieten.
Zusätzliche Verpflichtungen statt Markt
Beim Thema Energieeffizienz setzt das Parlament auf Verpflichtungen. Um die vom Parlament gesetzten Ziele zu erreichen, werden Stromversorger zukünftig verpflichtet, bei Schweizer Endverbrauchern Energieeffizienzmassnahmen «an bestehenden elektrischen Geräten, Anlagen und Fahrzeugen» durchführen oder entsprechende Nachweise einzukaufen. Das BFE definiert dabei die jährlichen Zielvorgaben und den entsprechenden Massnahmenkatalog. Damit setzt das Parlament – anstatt auf Anreize – auf ein neues, umfassendes System, bei dem Energielieferanten in einem Bereich tätig werden müssen, der nicht ihrem Kerngeschäft entspricht. Wie hoch die (administrativen) Kosten des Systems ausfallen werden, ist noch nicht absehbar, sie werden aber schlussendlich von den Endverbrauchern zu tragen sein.
Ebenfalls auf eine Verpflichtung setzt das Parlament bei der Bildung der zukünftigen Wasserkraftreserve, welche mit dem Mantelerlass eine gesetzliche Grundlage erhält. Anstatt die Reserve wie bisher über Ausschreibungen zu kontrahieren, werden Speicherbetreiber zukünftig verpflichtet, einen Teil ihrer Energie gegen eine administrierte Vergütung für Notfälle vorzuhalten. Dieser Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit und Eigentumsgarantie sendet ein negatives Signal für Investitionen in erneuerbare Energien und Speicher.
Wichtige Signale, aber keine Revolution
Der Mantelerlass wird, vorbehalten eines Referendums, am 1. Januar 2025 in Kraft treten. Weitere Änderungen gibt es beispielsweise auch im Netzbereich (u.a. Smart Meter Vorschriften, Solidarisierungen Netzverstärkungskosten, Umgang Flexibilitäten) oder zum Thema Wasserstoff (Nationales Interesse, Kriterien Standortgebundenheit, teilweise Netzentgeltbefreiung). Einen Überblick über sämtliche Änderungen würde den Umfang dieses Artikels sprengen. Viele Details der Änderungen müssen auch noch auf Verordnungsstufe definiert werden (Vernehmlassung Q1 2024).
Insgesamt lässt sich feststellen, dass der Mantelerlass ein positives und wichtiges Signal für den Zubau erneuerbarer Energien und insbesondere auch Grossanlagen darstellt. Wie stark der Effekt ausfällt, wird sich in der Praxis noch zeigen müssen. Entscheidend wird sein, dass die Kantone ausreichend Gebiete für erneuerbare Anlage ausscheiden. Für eine Beschleunigung des Zubaus müssen auch die Bewilligungsverfahren gestrafft werden. Dieses Thema ist der Mantelerlass nicht gezielt angegangen und wird nun in einer separaten Vorlage, der sog. Beschleunigungsvorlage, ab sofort im Parlament diskutiert.
Gleichzeitig wurde mit dem Mantelerlass die Chance verpasst, den Markt vollständig zu öffnen und verstärkt auf marktliche Anreize, anstatt auf Regulierung, zu setzen. Die Umsetzung der zusätzlichen Regularien auf Verordnungsstufe und in der Praxis wird mit unzähligen Herausforderungen behaftet sein. Manche Konzepte mögen zwar in der Theorie sinnvoll erscheinen, lassen sich aufgrund der Komplexität des Strommarktes nur mit viel zusätzlicher Detailregulierung und Ineffizienzen umsetzen. Für eine möglichst kostengünstige Energiewende gibt es nur eine Lösung: The Power of Markets.