14.03.2023 | Kraftwerk Wägital: Musterschüler unter den Pionierwerken
Künftige Elektroingenieure erleben im Kraftwerk Wägital, dass zuverlässige Systeme von höchster Qualität selbst nach einem Jahrhundert wichtige Erfolgsfaktoren sind. Denn: Die einfachste, sicherste und sauberste Art der Stromproduktion ist und bleibt die Wasserkraft.
Es ist ein nasser Morgen vor der Kraftwerkszentrale in Siebnen (SZ). Zusammengedrängt unter Regenschirmen stehen sie mit hochgeschlagenem Jackenkragen: elf angehende Elektroingenieure der Ostschweizer Fachhochschule in Rapperswil (OST). Fredi Züger reibt sich die Hände. «Regenwetter ist Wasserkraftwetter», strahlt er in die noch nicht so wache Runde. Das pensionierte, ehemalige GL-Mitglied des Kraftwerks Wägital ist seit zwölf Jahren nebenamtlicher Dozent an der OST.
Neben Fredi Züger begrüsst in Jeans und Schnürboots Christian Stockinger, der kaum älter wirkt als die Besuchergruppe: «Vor 15 Jahren stand ich an exakt derselben Stelle wie ihr, als ich im Rahmen meines Studiums an der OST dieses Kraftwerk besichtigen durfte.» Heute ist er der Betriebsleiter. Seine Mission des Tages: Schrittweise Wiederinbetriebnahme des Kraftwerks nach der Revision der Drosselklappen im Apparatehaus Siebnen. Gemeinsam mit seinen Leuten wird er das Triebsystem der unteren Stufe mit Wasser füllen und verschiedene Tests durchführen, um im Verlauf des Tages die Stromproduktion in der Zentrale Siebnen wieder aufzunehmen.
1921 gründeten die damalige Nordostschweizerische Kraftwerke AG (NOK / heute Axpo) und das Elektrizitätswerk der Stadt Zürich (EWZ) die AG Kraftwerk Wägital. Geplant war nichts weniger als die höchste Gewichtsstaumauer und das grösste Kraftwerk Europas. 111 Meter hoch ist die Mauer. 66 Meter davon sind sichtbar. Für die damalige Zeit waren es gigantische Ausmasse. Zudem sollte das Vorzeigekraftwerk nicht nur Strom produzieren, sondern das Wasser zur Speicherung und Wiederverwendung in den Wägitalersee hochpumpen. Die Bauzeit von vier Jahren (1922 - 1926) war für die damaligen Verhältnisse enorm kurz.
Die Einwohner von Innerthal mussten dem See weichen. Wer nicht wegziehen wollte, fand im neu erstellten Dorf am Seeufer ein Zuhause. Heute fasst der See ein Stauvolumen von 150 Millionen Kubikmeter Wasser. Um Hangrutsche zu vermeiden, wird nur die Wassermenge zwischen den Staukoten 880 und 900 m ü. Meer bewirtschaftet. Das Kraftwerk produziert jährlich rund 128 Millionen Kilowattstunden Strom (davon 100 Millionen kWh aus natürlichen Zuflüssen). Das Einzugsgebiet des Wägitalersees erstreckt sich über 43 Quadratkilometer. Aus weiteren 40 Quadratkilometern sammelt sich das Wasser im Ausgleichsbecken Rempen und wird in den Wägitalersee gepumpt oder in der Zentrale Siebnen zur unmittelbaren Stromerzeugung genutzt.
Für den Bau und Betrieb des Kraftwerks Wägital entwarfen die NOK (Axpo) und das EWZ als Aktionäre von je 50 Prozent erstmals einen sogenannten Partnervertrag, so wie er noch heute in vielen Schweizer Kraftwerken zur Anwendung kommt. Die Partner berappen anteilmässig die Bau-, Betriebs- und Investitionskosten des Kraftwerks und erhalten im Gegenzug ebenfalls anteilmässig den produzierten Strom.
Eine spezielle Herausforderung stellte im Kraftwerk Wägital jedoch der Abtransport des begehrten Guts dar. Das EWZ speist seinen Strom auf dem Höchstpannungsnetz (220 Kilovolt) ein, Axpo aber ins Überregionalnetz (50 kV / 110 kV). «Es gibt gute Gründe, warum es hier mehrere verschiedene Transformatoren gibt und natürlich auch separate Leitungen davon wegführen», zeigt Christian Stockinger lachend auf den beeindruckenden Trafopark hinter dem Maschinengebäude.
Die Studierenden nimmt er mit ins Untergeschoss des Maschinenhauses Siebnen, wo mannshohe Druckleitungen das Wasser auf die vier Turbinen (12 Megawatt) leiten. Kein Gurgeln, rein gar nichts ist zu hören. Noch läuft die Anlage nicht. «Aber selbst wenn Wasser durchfliesst, hören wir nicht etwa die Druckleitungen, sondern die angetriebenen Turbinen», erklärt Christian Stockinger.
15 Mitarbeitende zählt das Kraftwerk Wägital. Neben fünf Mechanikern kümmern sich vier Mitarbeitende um die Elektrik und Leittechnik, die 2003 komplett ersetzt worden ist. Nochmals fünf Leute sind für die bauliche Instandhaltung zuständig. Grosse Revisionsarbeiten machen externe Anbieter. Die Drosselklappen zum Beispiel wurden in Piedimulera (Italien) revidiert.
Das Kraftwerk Wägital arbeitet auf zwei Stufen, verfügt über eine installierte Leistung von 108 Megawatt und produziert reine Spitzenenergie. «Von den maximal 8760 Stunden im Jahr ist das Kraftwerk lediglich rund 1200 Stunden in Betrieb, eben dann, wenn die Nachfrage nach elektrischer Energie im Allgemeinen sehr gross respektive der Preis im europäischen Strommarkt sehr hoch ist», sagt Christian Stockinger. Die Anlage wird vollautomatisiert aus Sils im Domleschg (GR) angesteuert, von wo aus das EWZ seine Speicherkraftwerke kontrolliert. Obwohl der Kommandoraum des Wasserkraftwerks so gross wie ein Schulzimmer ist, besteht die Inneneinrichtung heute nur noch aus einem Stehpult mit Doppelbildschirm. Am Computer vertieft sich Christian Stockinger nun in die Testergebnisse für die Inbetriebnahme des Triebwassersystems respektive der Zentrale Siebnen, überprüft Wasserstand und Druck.
Derweil freut sich die wissenshungrige Gruppe auf den Besuch der Staumauer «Schräh», die 11 Kilometer talaufwärts die Gemeinde Innerthal von Vorderthal trennt. Auf Streckenhälfte befindet sich die Zentrale Rempen. Sie ist der Zielort von zwei rund 250 Meter langen Druckleitungen ab dem Apparatehaus, wo der rund 3,7 km lange Druckstollen aus dem Wägitalersee endet. Vier Maschinengruppen à 15 Megawatt produzieren hier auf der ersten Stufe Strom aus Wasser der Schwyzer Voralpen. Das im Ausgleichsbecken Rempen gesammelte Wasser schaffen vier dreistufige Zentrifugalpumpen schliesslich wieder hoch in den Wägitalersee zur Wiederverwendung. Alternativ wird es in der Zentrale Siebnen turbiniert, fliesst dann in die Wägitaler Aa und schliesslich bei Lachen (SZ) in den Zürichsee.
Die Talsperre am Wägitalersee ist 156 Meter lang und dient zudem als Strasse. Darunter lagern 236'600 Kubikmeter Beton, luftseitig elegant verkleidet mit Granitsteinen. «Die Mauer mag zwar so alt sein wie eure Urgrosseltern, aber noch heute werden Gewichtsstaumauern auf dieselbe Art und Weise erstellt», sagt Fredi Züger nicht ohne Stolz. Im Innern der Staumauer treffen die Besucher auf eine klebrige Feuchtigkeit, die Brillen beschlägt und dem wechselhaften Regentag in nichts nachsteht. Fredi Züger zeigt die drei zur Überwachung installierten Gewichtslote, erklärt die Fugenmessungen, das Monitoring des Porenwasserdrucks im Widerlager und die Analyse von Sicker- und Drainagewassermengen. Regelmässig werden Fixpunkte mit geodätischen Messungen und Präzisionsnivellements überwacht. «Wir sammeln die Daten kontinuierlich und lückenlos.»
Eine bautechnische Meisterleistung war auch der Bau des neuen Grundablasses in den Jahren 1982 bis 1984. Da der Stausee nicht unter 880 m ü. M. abgesenkt werden sollte, wurde der Grundablass-Stollen mit einem Durchmesser von 2,5 m von der Luftseite her durch die Mauer ausgefräst. «Für den letzten Abschnitt und Durchschlag brachten Taucher von der Seeseite eine Montagekapsel an. Dabei handelte es sich um eine «Luftglocke», die wasserdicht auf die Mauer gesetzt wurde.» Fredi Zügers Anekdoten sollen eines vermitteln: Langlebiges entsteht, wenn ausgefeilte Ingenieurstechnik, verschleissarme Systeme, pragmatische Lösungen und über Jahre verfeinerte Montagetechniken zusammenkommen.
Die Konzession für das Kraftwerk Wägital läuft bis Ende 2040. Erneuerungsverhandlungen stehen ins Haus. Wird sich der Bezirk March für den Heimfall oder die Konzessionsverlängerung als Rundum-Sorglos-Paket inklusive Wasserzinszahlungen entscheiden?
Unbemerkt von der Besuchergruppe beobachtet Christian Stockinger im Kommandoraum, wie das Schwyzer Wasser nun ans Werk geht. Die Turbinen kommen in Schwung und setzen die Generatoren für die Stromproduktion in Gang. Ein denkbar einfaches System stellt sicher, dass das Kraftwerk Wägital - gut gewartet und gepflegt - noch weitere 100 Jahre sicher und zuverlässig die Verbrauchsspitzen in Zürich und Umgebung unabhängig vom Wetter abdecken kann.