23.09.2021 | Markteinblicke: Ein Brennstoff, der die Lücke zwischen fossilen und erneuerbaren Energien füllt
Der Wandel weg von der Kohle und hin zur Klimaneutralität läuft auf Hochtouren. Erdgas im Allgemeinen und von LNG (Liquefied Natural Gas, Flüssigerdgas) im Besonderen gewinnen dabei weltweit stetig an Bedeutung. Axpo Experte Andy Sommer, Team Leader Fundamental Analysis & Modelling, gibt im folgenden Bericht einen Einblick in den Markt und zeigt auf, welche Rolle Erdgas in den kommenden Jahren spielen wird.
Die Welt bewegt sich langsam in Richtung der Klimaziele des Übereinkommens von Paris. 2015 unterzeichneten 196 Länder das Abkommen, um die durchschnittliche globale Erderwärmung auf deutlich unter 2 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu halten. Einige Länder wie die Schweiz, Südkorea, Japan und die EU streben bis 2050 die vollständige Klimaneutralität an. China hat angekündigt, bis 2060 klimaneutral werden zu wollen. Viele internationale Grossunternehmen wie Mercedes-Benz, Maersk, Danone und Starbucks steuern ebenfalls auf die Klimaneutralität zu.
Was bedeutet das für die Energiemärkte und insbesondere für Erdgas? Ist es realistisch anzunehmen, dass erneuerbare Energien künftig den gesamten Energiebedarf decken werden? Falls ja, werden Gaskraftwerke und Gaspipelines dann zu „stranded assets“ – also zu verlorenen Vermögenswerten?
Neben den Subventionen für erneuerbare Energietechnologien und der erzwungenen Schliessung alter, umweltverschmutzender Kohlekraftwerke gilt die Bepreisung von Emissionen als einer der wirkungsvollsten Hebel zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen. Die Theorie besagt, dass durch höhere Emissionspreise die Betriebskosten für emissionsintensive industrielle Aktivitäten wie etwa die Stromerzeugung in Kohlekraftwerken steigen. Technologien mit geringeren Emissionen wie z. B. Gaskraftwerke werden hingegen vergleichsweise profitabler. Dies eröffnet günstige Wirtschaftschancen für Erdgas. Emissionsfreie Technologien werden zwar nicht finanziell belastet, sind aber derzeit oft noch zu teuer, um sie in der benötigten Grössenordnung auszubauen.
Die Europäische Union betreibt zurzeit das Emissionshandelssystem (EU-ETS), das als Markplatz konzipiert ist, um Emissionsrechte für bestimmte Branchen aus einem immer kleiner werdenden Angebots-Pool zu kaufen. China hat kürzlich ein ähnliches Emissionshandelssystem eingeführt. Südkorea, Deutschland und andere Länder besteuern zudem bereits heute Treibhausgasemissionen in bestimmten Branchen.
Dennoch ist die Anzahl der Länder mit derartigen Programmen
oder Plänen derzeit noch äusserst gering. Die ausbleibenden Massnahmen hatten zur Folge, dass die Stromerzeugung aus relativ kostengünstiger Kohle in vielen Weltregionen, vor allem in asiatischen Ländern mit starkem Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum und somit hoher Energienachfrage, weiterhin die vorrangige Stromerzeugungsart darstellt. Aus diesem Grund konnten selbst die jüngst gesunkenen Installationskosten für erneuerbare Energietechnologien die global steigenden Treibhausgasemissionen nicht eindämmen.
Mit 42% ist die Strombranche weltweit der grösste Einzelverursacher der globalen Treibhausgasemissionen. Alle anderen Branchen zusammen sorgten im Jahr 2018 für 58 % der Emissionen. Der Verkehrssektor stiess 25 % der 33,5 Milliarden Tonnen Treibhausgase aus, dicht gefolgt von der verarbeitenden Industrie mit einem Anteil von 19 %.
Die Statistiken der Internationalen Energieagentur (IEA) weisen auf drei wichtige Trends hin. Die Energiewende in Europa trug zwischen 2010 und 2018 zu einer Reduzierung der CO2-Emissionen des Kontinents um 15 % bei. Die Schiefergas-Revolution in den USA reduzierte die Emissionen um rund 7 %. Die Treibhausgasemissionen der Nicht-OECD-Länder in Asien stiegen im gleichen Zeitraum jedoch um über 25 % bzw. 3 Milliarden Tonnen.
Axpo erwartet in den kommenden Jahren stark steigende CO2-Preise in der EU. Es ist wahrscheinlich, dass andere Länder und Regionen dem Beispiel folgen und Treibhausgasemissionen ebenfalls in irgendeiner Weise bepreisen werden. Da die Installationskosten für erneuerbare Energietechnologien voraussichtlich weiter fallen werden, stimmen wir mit der Annahme der IEA überein, dass CO2-arme Technologien die hauptsächliche Treiber der weltweit wachsenden Nachfrage nach Primärenergie bis 2030 und sogar darüber hinaus sein werden.
Wir sind aber auch der Ansicht, dass Erdgas im derzeitigen Umfeld der Energieversorgung eine sehr bedeutsame Rolle spielen wird.
Erstens wird Europa den Kohleausstieg in den kommenden Jahren weiter vorantreiben. Ein ähnlicher Trend ist weltweit festzustellen. Die Nachfrage nach Kohle scheint im vergangenen Jahrzehnt ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Dieser Umstand bedeutet angesichts des globalen Wirtschaftswachstums und des immer schneller steigenden Energieverbrauchs, dass das Erdgas einen wichtigen, künftig noch wachsenden Anteil am Energiemix ausmachen wird. Und das, obwohl für die kommenden Jahrzehnte ein starker Anstieg der globalen Kapazitäten für Kernkraft und erneuerbare Energien prognostiziert wird.
Zweitens stellen erneuerbare Energien derzeit noch keine verlässliche Lösung dar, da sie nicht unterbrechungsfrei und konstant zur Verfügung stehen. Der Bau von Verbindungsleitungen und die Entwicklung ausreichender Batteriekapazitäten zur Überbrückung längerer Phasen ohne Wind oder Sonne benötigen Zeit. Gaskraftwerke hingegen sind in einer hervorragenden Position, um eine stabile Stromversorgung auf sehr flexible Weise zu gewährleisten. Ob dies auf dem Grosshandelsmarkt geschehen kann, oder als flexible Kapazitätsreserve beim Netzbetreiber, bleibt jedoch abzuwarten.
Drittens erfordert das Erreichen einer Welt ohne CO2-Emissionen eine erhebliche Dekarbonisierung in anderen Branchen, vor allem im Verkehrssektor und in der verarbeitenden Industrie. Eine hilfreiche Technologie dafür steht bereits zur Verfügung: Mittel- und langfristig wird ein starkes Wachstum an Energie aus Wasserstoff zu verzeichnen sein. Auch wenn eine umweltfreundliche Wasserstofferzeugung mit Strom aus erneuerbaren Quellen die bevorzugte Option darstellt, wird es sicherlich -einige Zeit dauern, bis die Wind- und Photovoltaik-Kapazitäten den erforderlichen Bedarf decken können. Preiswerter ist es, das vorhandene Erdgas für die Wasserstofferzeugung zu nutzen – idealerweise in Verbindung mit der CO2-Abscheidung und -Speicherung, einer Technologie, die unter dem Namen „blauer Wasserstoff“ bekannt ist.
Flüssigerdgas (LNG) wird seit langer Zeit als der Brennstoff angesehen, der die Lücke schliessen soll, die beim Übergang von den umweltschädlicheren Brennstoffen wie Erdöl und Kohle zu erneuerbaren Energien entsteht. LNG bietet zudem die Möglichkeit, die „stranded assets“ zu monetarisieren und stockende Energiemärkte mit einem Brennstoff zu versorgen, der einen geringeren CO2-Ausstoss aufweist.
Nach den Grossinvestitionen in den frühen 2010er Jahren, als die Erdöl- und Gaspreise hoch waren, erreichte der LNG-Handel 2019 ein Volumen von 355 Millionen Tonnen pro Jahr, was 5300 TWh entspricht. Das Marktwachstum gegenüber dem Vorjahr betrug dabei 13 %. Aufgrund geringer Investitionen in neue LNG-Projekte und massiver Verzögerungen in den letzten Jahren wird jedoch für den Zeitraum von 2021 bis 2024 mit einer deutlichen Abschwächung des LNG-Handelswachstums gerechnet. Gleichwohl wird die Nachfrage nach LNG fortbestehen. Ab Mitte der 2020er Jahre wird dann wieder mit einem Anstieg des verfügbaren Handelsvolumens gerechnet, vor allem auf den Märkten in Nordost- und Südasien, wo finanzielle Anreize eine Reduzierung der CO2-Emissionen beschleunigen werden. Auf diesen Märkten haben die Erdöl- und die Kohleindustrie immer noch bedeutende Marktanteile, sodass LNG als Brückentechnologie zu erneuerbaren Energiequellen angesehen werden wird, wenn die entsprechenden Kosten in den kommenden Jahren sinken. Laut Prognosen soll dies das Handelsvolumen bis 2040 auf 700 Millionen Tonnen pro Jahr (10 400 TWh) fast verdoppeln[1].
Auf den Energiemärkten Europas, wo Steinkohle, Braunkohle und Kernkraft durch Erdgas ersetzt werden, wird der Erdgasanteil jedoch nicht so schnell ansteigen, da der schnelle Ausbau der erneuerbaren Energien die Verluste an anderer Stelle ausgleicht. Stattdessen wird LNG in Grossbritannien, den Niederlanden und in geringerem Masse auch in Norwegen angesichts der sinkenden Inlandsproduktion eher als Lückenfüller für das zurückgehende Angebot angesehen. Dies geht einher mit der Unsicherheit rund um die Gasimporte aus Russland, die einem politischen Druck unterliegen.
Autor: Andy Sommer, Team Leader Fundamental Analysis & Modelling