23.01.2024 | Bundesrat und Europäische Kommission stellen Verhandlungsmandate im Entwurf vor
Am 15. Dezember 2023 hat der Bundesrat u. a. den Entwurf seiner Verhandlungsleitlinien zum Stromabkommen veröffentlicht: Im Falle der Annahme nach erfolgter Konsultation werden die Leitlinien die Grundlage für die Verhandlungen zur Neuordnung der Strombeziehungen von Schweiz und EU bilden. Die Leitlinien enthalten dreizehn spezifische Verhandlungsziele: Kernelement ist die ungehinderte Teilnahme der Schweiz am EU-Strombinnenmarkt. Mit der Annahme der Leitlinien wird im März oder April gerechnet; danach beginnen die Verhandlungen mit dem Ziel, diese bis Ende 2024 abzuschliessen.
Im Mai 2021 hatte der Bundesrat die Verhandlungen mit der EU betreffend ein Rahmenabkommen, das sogenannten Institutionelle Abkommen (InstA), abgebrochen. Zweieinhalb Jahre später stellt nun der Schweizer Bundesrat sein neues Verhandlungsmandat vor; statt von einem Rahmenabkommen ist jetzt von einem «Paketansatz» die Rede. Der neue Vorstoss ist das Ergebnis einer Vielzahl von Treffen mit der Europäischen Kommission, die die Europäische Union in den Verhandlungen vertritt.
Das Stromabkommen ist eines von mehreren Elementen des Paketes, über das zwischen der Schweiz und der Europäischen Kommission verhandelt wird:
Paketansatz / Institutionelle Fragen
Während beim Rahmenabkommen die institutionellen Fragen in einem übergeordneten Teil geregelt werden sollten, ist nun angedacht, diese direkt in die Marktzugangsabkommen, wie z. B. das Stromabkommen, zu integrieren. Allerdings sollen diese allgemeinen Regeln in allen sektoriellen Abkommen einheitlich geregelt werden.
Die institutionellen Fragen gehören zu den übergeordneten und für den Erfolg der Verhandlungen wichtigen Themen; inhaltlich geht es dabei um folgendes:
Aufdatierung: Die fortlaufende Anpassung eines Abkommens an das sich verändernde EU-Recht. Begründet wird dies bei den Marktzugangsabkommen damit, dass diese auf EU-Recht beruhen das sich laufend fortentwickelt; der EU-Strombinnenmarkt wird z. B. im Rahmen des Fit-for-55-Pakets und der soeben abgeschlossenen Reform des EU-Strommarktdesigns umfassend überarbeitet.
Auslegung: Wenn man unterstellt, dass insbesondere die Marktzugangsabkommen auf EU-Recht beruhen und gleiche Bedingungen für alle Marktteilnehmer garantieren sollen, so muss das entsprechende EU-Recht auch einheitlich ausgelegt werden. In der EU hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) den Anspruch, EU-Recht abschliessend auszulegen. Diesen Anspruch überträgt die EU auch auf die Schweiz.
Streitschlichtung: Für den Fall, dass Uneinigkeit bezüglich der Anwendung und Auslegung des Abkommens zwischen den Vertragsparteien besteht, soll eine Lösung in einem gerichtsförmigen Verfahren gefunden werden. Das wäre eine Abkehr vom bisherigen Streitbeilegungsverfahren im Rahmen der sogenannten Gemischten Ausschüsse; in diesen Gremien werden offene Fragen bislang im Rahmen von Verhandlungen gelöst, jedoch ohne Urteil einer übergeordneten Schiedsinstanz. Im Rahmen des Paketansatzes wäre ein Schiedsgericht zuständig, dass von beiden Vertragsparteien angerufen werden kann; aufgrund der ausschliesslichen Zuständigkeit des EuGH bei der Auslegung von EU-Recht, müsste das Schiedsgericht rechtliche Fragen betreffend EU-Recht dem EuGH vorlegen und dessen Auslegung beim Schiedsspruch berücksichtigen.
Diese drei Weiterentwicklungen sollen die fünf bestehende Binnenmarktabkommen ergänzen und in die zwei neu zu verhandelnden Binnenmarktabkommen, z. B. das Stromabkommen, aufgenommen werden (siehe oben Grafik des EDA).
Verhandlungsleitlinien Stromabkommen des Bundesrats
Der «Entwurf ergänzende Verhandlungsleitlinien zum Stromabkommen» (Verhandlungsleitlinien Stromabkommen) ist eine Anlage zu den am 15. Dezember 2023 vom Schweizer Bundesrat veröffentlichten, übergeordneten Verhandlungsleitlinien. Die Verhandlungsleitlinien Stromabkommen enthalten dreizehn mögliche Verhandlungsziele für den Strombereich, u.a. zur Marktöffnung.
Verhandlungsrichtlinien der EU
Die Europäische Kommission hat am 20. Dezember 2023 ihrerseits einen Entwurf für Verhandlungsrichtlinien zu Händen des Rats (~Kammer der EU-Mitgliedsstaaten) zusammen mit einem erläuternden Bericht veröffentlicht. Es fällt auf, dass sich beide Dokumente auf institutionelle Fragen konzentrieren und keine Details zu einem möglichen Stromabkommen enthalten. Lediglich der erläuternde Bericht zum Entwurf der Verhandlungsleitlinien enthält eine allgemeine Aussage zum Strombereich (Übersetzung aus dem Englischen): «Das Abkommen über Elektrizität sollte darauf abzielen, den Handel mit Elektrizität zu fördern, den sozialen Wohlstand zu erhöhen, die Netzstabilität und Versorgungssicherheit zu gewährleisten und den Übergang zu einem Netto-Null-Energiesystem erleichtern.»
Common Understanding von Schweiz und EU
Am 15. Dezember 2023 wurde auch das sogenannte Common Understanding von Schweiz und Bundesrat veröffentlicht. Dieses datiert vom 27. Oktober 2023 und fasst die Ergebnisse der bisherigen Sondierungsgespräche zusammen, entfaltet jedoch keine Bindungswirkung für die anstehenden Verhandlungen.
Vergleicht man die Verhandlungsziele des Bundesrats gemäss Verhandlungsleitlinien Stromabkommen mit den Aussagen des Common Understandings zu Stromabkommen («NEW AGREEMENT ON ELECTRICITY») so stellt man fest, dass bezüglich folgender Themen ein Übereinkommen zwischen Schweiz und der Europäischen Kommission zu bestehen scheint:
Die Schweiz soll Teil des EU-Strombinnenmarktes werden; dies beinhaltet die Teilnahme an allen Handelsplattformen der EU und an allen für Regulierung relevanten Prozessen und Organisationen, soweit der vorgesehene regulatorische Rahmen dies erlaubt.
Soweit mit dem EU-Recht vereinbar, sollen Massnahmen zur Sicherung der Versorgungssicherheit möglich sein, z.B. über strategische Reserven («national generation reserves»).
Nationale Verbraucherschutzmassnahmen sind zulässig, die Haushalten und Unternehmen unterhalb eines bestimmten Stromverbrauchs Zugang zur Grundversorgung gewähren (“supplier of last resort”).
Bei der Ausgestaltung der Regeln zu den staatlichen Beihilfen im Strombereich, soll die Rolle von Wasserkraftwerken und von Reservekraftwerken in der Schweiz berücksichtigt werden.
Das Common Understanding trifft hingegen keine Aussagen zu folgenden Zielen des Bundesrats:
Verhältnismässige Entflechtung der Verteilnetzbetreiber.
Angemessene Absicherung der wichtigsten bestehenden staatlichen Beihilfen der Schweiz im Strombereich.
Keine zusätzliche Aufnahme von EU-Umweltrecht.
Rücksichtnahme auf kantonale Hoheiten.
Ausgewogene Ablösung der Priorisierung der langfristigen Bezugsverträge.
Hinreichend lange Fristen für Umsetzung.
Ob bezüglich dieser Ziele kein gemeinsames Verständnis mit der Europäischen Kommission erzielt werden konnte oder ob diese Ziele aus anderen Gründen keinen Eingang in das Common Understanding gefunden haben, ist offen.
Nächste Schritte
Der Bundesrat führt derzeit Konsultationen mit Parlament, Kantonen sowie Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und Vertretern der betroffenen Branche durch. Eine Verabschiedung des Entwurfs der Verhandlungsleitlinien durch den Bundesrat könnte im März oder April 2024 erfolgen. Sollten die Verhandlungen mit der Europäischen Kommission erfolgreich verlaufen und – wie im Common Understanding festgehalten – bis Jahresende abgeschlossen werden, müsste anschliessend die Verrechtlichung unter Einbezug des Parlaments erfolgen. Die Frage, ob das Abkommen als Ganzes einem obligatorischen oder nur einem fakultativen Referendum untersteht, ist umstritten.
Auf Seite der Europäischen Union muss der Entwurf der Verhandlungsleitlinien vom Rat verabschiedet werden, womit zu rechnen ist. Gemäss Verhandlungsleitlinien soll auch ein Sonderausschuss bestellt werden, mit dem sich die Europäische Kommission abzustimmen hat. Die Ratifizierung des Verhandlungsergebnisses ist ebenfalls Sache des Rats, der im gesamten Verfahren mit qualifizierter Mehrheit entscheidet. Das Europäische Parlament ist nachgeordnet beteiligt, d. h. es ist in allen Phasen des Verfahrens unverzüglich und umfassend zu unterrichten und muss der Ratifizierung zustimmen bzw. muss angehört werden. Das Europäische Parlament hatte sich im Oktober 2023 mit einem Initiativbericht (sogenannter Mandl-Bericht) für gute Strombeziehungen zur Schweiz ausgesprochen.
Ob die Verhandlungen zwischen Schweiz und Europäischer Kommission noch im Jahr 2024 abgeschlossen werden können, ist insbesondere angesichts der Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2024 und der nachfolgenden Umbildung der Europäischen Kommission, fraglich.
Bewertung
Ein geregeltes Verhältnis und eine enge Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU im Strombereich sind für die Systemstabilität der Schweiz und Europas zentral. Ein Stromabkommen kann wesentlich dazu beitragen, die bestehenden Unsicherheiten zu reduzieren und die Versorgungssicherheit in der Schweiz zu stärken, insbesondere durch die bessere Einbindung der Schweiz in die Kapazitätsberechnung der EU und in die Arbeit der relevanten Gremien sowie durch die uneingeschränkte Teilnahme an den verschiedenen Regelenergieplattformen der EU.
Die Schweiz ist auf den Stromhandel mit der EU angewiesen. Insbesondere im Winter reicht die im Inland produzierte Strommenge nicht aus, um die Nachfrage zu decken. Ein funktionierender Handel und genügend Grenzkapazitäten fördern nicht nur die Versorgungssicherheit in der Schweiz, sondern führen auch zu tieferen Strompreisen.
Der Entwurf der «ergänzenden Verhandlungsleitlinien zum Stromabkommen» ist zu begrüssen. Die darin enthaltenen Ziele sollten im finalen Abkommen und in der späteren Umsetzung in Schweizer Recht und in der Rechtsanwendung abgebildet sein.