17.05.2022 | Im Kanton Glarus zeigt die Wasserkraft, was sie kann
Von der Aussenwelt praktisch unbemerkt produzieren das älteste und das jüngste Wasserkraftwerk des Kantons Glarus Strom. Beide spielen eine wichtige, wenn auch unterschiedliche Rolle für die Schweizer Stromversorgungssicherheit. Der systemrelevanten Wasserkraft droht jedoch das Schicksal des Selbstverständlichen. Denn was schon immer da war und das menschliche Auge nicht sieht, verliert an Bedeutung.
Unterirdisch und unscheinbar drehen am Dorfrand von Netstal die Turbinen des ältesten Glarner Wasserkraftwerks. Vor allem zum Feierabend, während den Essenszeiten und an TV-Abenden brummen die Generatoren des Kraftwerks am Löntsch beständig vor sich hin. Die Anlage produziert sogenannte Spitzenenergie, um Verbrauchsspitzen abzufedern.
Das Kraftwerk am Löntsch wurde vor 114 Jahren gebaut. Zusammen mit dem Laufwasserkraftwerk Beznau im Kanton Aargau bildete es den ersten Stromverbund für die damals frisch gegründeten Nordostschweizerischen Kraftwerke NOK (heute Axpo). Diese beiden über hundertjährigen Anlagen gelten darum als Wiege der Axpo.
Entstanden sind sie durch Pionierarbeit. «Was unsere Vorfahren hier in den Glarner Bergen von Hand, mit Pferdefuhrwerken und reichlich Dynamit innerhalb von gerade mal drei Jahren errichtet haben, verdient allergrössten Respekt», sagt der stellvertretende Betriebsleiter, Jürg Meili. Der Mann mit 40 Dienstjahren im Löntschwerk betont: «Die Erbauer waren Visionäre. Noch heute würden wir die Anlage nur in wenigen Details anders bauen.» So stehen über hundert Jahre später immer noch ein grosser Teil des damals erbauten Stollens sowie der Staudamm im Einsatz.
Genutzt wird das Wasser aus dem Klöntalersee. Von Zürich aus in einer Autostunde erreichbar, geniesst das am Fusse des Pragelpasses gelegene Naherholungsgebiet grosse Beliebtheit. Nur wenig deutet auf die Nutzung des Sees zur Stromproduktion hin. So dient der 220 Meter lange Erddamm am Anfang des Sees auch als Strasse. Einzig die markante Hochwasserentlastung in Dammnähe – einem überdimensionierten Badewannenstöpsel nicht unähnlich – hebt sich von der Idylle ab. Diese Hochwasserentlastung verhindert bei grossen Regen- und / oder Schmelzwassermengen das Überlaufen des Sees und ist über einen Stollen mit dem Löntschbach verbunden.
Ein vier Kilometer langer Druckstollen führt von der Wasserfassung am Seegrund mitten durch den Berg bis zum Wasserschloss oberhalb von Netstal. Über die Druckleitung stürzt das Wasser 365 Höhenmeter in die Tiefe und treibt im Tal die Turbinen an. Da der alte Druckstollen die Wassermenge auf 20 Kubikmeter pro Sekunde limitiert, beträgt die maximale Kraftwerksleistung 60 Megawatt (MW). Mit dieser Leistung könnte man 60'000 Staubsauer gleichzeitig betreiben.
Die Stromproduktion erfolgt heute grösstenteils unterirdisch. Im Rahmen der ersten grossen Revision (1971-1975) wurde die aussen am Felsen geführte Druckleitung ins Berginnere verlegt und alle sichtbaren Rohre demontiert. Gesteuert wird das Wasserkraftwerk seit vielen Jahren direkt aus der Leitstelle in Baden (AG). «Wenn unsere Maschinen anspringen, spüren wir das in unseren Büroräumen, die über dem Maschinensaal liegen», sagt Jürg Meili. Daneben ist seit Anfang 2014 im Kommandoraum der Kraftwerke Linth-Limmern eine Notsteuerstelle für das Löntschwerk in Betrieb. So profitiert das älteste Glarner Axpo-Kraftwerk von einer direkten Verbindung zum jungen, hochmodernen Kraftprotz zuhinterst im Tal.
Das pure Understatement modernster Technik befindet sich 30 Autominuten weiter südwärts am hintersten Zipfel des Linthals. Lediglich eine Seilbahn, ein Betriebsgebäude, ein kleines Hotel und zwei moderate Ausgleichsbecken gibt es zu sehen. 2009 – 2015 ohne eine einzige Einsprache zum Pumpspeicherwerk ausgebaut, sorgt mitten im Berg eine der leistungsstärksten Anlagen Europas dafür, dass in der Schweiz das Licht nicht ausgeht.
Im Kommandoraum des Betriebsgebäudes wird klar, was sich dem Auge entzieht. Egal ob Seepegel, Wassergeschwindigkeit oder Drehzahlen, alle Daten der mächtigen Pumpspeicheranlage Limmern werden in Echtzeit auf eine Grossleinwand projiziert. Rund 15 Computermonitore liefern weitere Messdaten. Zur Stromproduktion können die gesamten Kraftwerke Linth-Limmern (KLL) für kurze Zeit eine Leistung von 1520 MW mobilisieren. Das ist mehr, als das grösste Schweizer Kernkraftwerk leistet und entspricht 1,5 Millionen Staubsaugern, die gleichzeitig laufen. «Unsere Stärke liegt aber nicht im Marathonbetrieb, sondern in der Agilität», erklärt Martin Steiner, stellvertretender Betriebsleiter der KLL.
Der Puls der verborgenen Anlage schlägt im Viertelstundentakt. Das ist der Rhythmus im Stromhandelsgeschäft. Martin Steiner: «Der Handel entscheidet, ob wir zur Netzregulation mittels Pumpbetrieb ein Überangebot an Strom aus dem Netz ziehen oder über die Turbinen Strom produzieren und raschestmöglich ins Netz einspeisen.» Die vier hochmodernen Maschinen sind einzeln regelbar und in der Lage, innerhalb von sechs Minuten komplett in Gegenrichtung zu laufen. «Wir führen aus, was durch Axpo Trading im kurzfristigen Energiemarkt gehandelt wurde.» Zudem stellen die Kraftwerke Linth-Limmern immer wieder netzstabilisierende Systemdienstleistungen für den Betreiber des schweizerischen Höchstspannungsnetzes, Swissgrid, zur Verfügung. Wer wie Axpo eine derart flexible Anlage im Portfolio hat, ist im europäischen Stromnetz ein wichtiger Player.
«Unsere Stärke liegt nicht im Marathonbetrieb, sondern in der Agilität»Martin Steiner, Stv. Betriebsleiter KLL
Der Pumpbetrieb – abhängig von den Wetterverhältnissen in Ländern mit viel Sonnen- und Windkraft – startet oft vor dem Mittag. Am späten Nachmittag aber ändern sich die Vorzeichen. Dasselbe Wasser, das zuvor hochgepumpt wurde, kommt dann zur Stromproduktion zum Einsatz. Martin Steiner: «Nach Sonnenuntergang beginnt unsere Rushhour.» Ab 18.00 Uhr stehen die Kraftwerke Linth-Limmern dem Kraftwerk Löntsch talauswärts in nichts nach und produzieren mit voller Kraft Strom. Erst nach Mitternacht, wenn Mensch, Verkehr und viel Industrie ruhen, geht das PSW Limmern wieder in den Pumpbetrieb über.
Dass sowohl die Stromproduktion als auch der Pumpbetrieb im Berginnern ablaufen, macht die Wucht der komplexen Anlage für Aussenstehende schlecht fassbar. Nicht mal die beiden eindrücklichen Staumauern sind vom Betriebsgebäude aus zu sehen. Während sich die in den 60er-Jahren erbaute Staumauer des Limmernsees in einem Seitental verbirgt, befindet sich die neue, über 1000 Meter lange Staumauer des Muttsees im hochalpinen Gelände auf über 2400 Metern über Meer - ohne Zugang für Fahrzeuge.
Die Gegensätze zwischen der ältesten und der jüngsten Anlage im Kanton Glarus könnten grösser nicht sein. Beiden aber gemeinsam ist, dass die Mitarbeitenden jedes Jahr zahlreiche Besuchergruppen durch ihr Werk führen. Bei dieser Gelegenheit zeigen sie den Interessierten, warum der Schweiz ohne die Wasserkraft – dem Rückgrat der Schweizer Stromversorgung – schnell mal der Strom ausgehen würde.
Führungen im Kraftwerk am Löntsch:
Turbinen: 2 vertikale Francisturbinen à 40,5 MW, 1 horizontale Peltonturbine à 8,1 MW
Max. Leistung: 60 MW (Begrenzung durch Druckstollenquerschnitt)
Klöntalersee
Max. Leistung: 1520 MW (PSW Limmern: 1000 MW / restl. KLL: 520 MW)
Max. Pumpleistung: 1174 MW (PSW Limmern: 1000 MW / PSW Tierfehd / Hintersand: 174 MW)
Limmernsee
Muttsee