15.06.2022 | Wasserkraft am Vorderrhein – und die Sache mit den Staumauer-Erhöhungen
In den Seitentälern zwischen dem Oberalp- und dem Lukmanierpass sammeln die Stauseen Curnera, Nalps und Santa Maria das ganze Jahr durch Wasser für die Stromproduktion im Winter. Nun soll die Erhöhung der Staumauern das Risiko einer absehbaren Strommangellage reduzieren und einen Anteil an eine künftige sichere Stromversorgung leisten. Das Projekt gehört zu den Vorschlägen des «Runden Tisches Wasserkraft » von Bundesrätin Simonetta Sommaruga. Machbarkeit und Finanzierung werden aktuell abgeklärt.
Wenige Kurven nach der Oberalppasshöhe in Richtung Sedrun (GR) biegt ein unscheinbarer Kiesweg Richtung SAC-Maighelshütte ab. Wer vor dem holprigen Pfad nicht zurückschreckt, entdeckt hinter dem ersten Alpgebäude eine Abbiegung auf eine gut unterhaltene Strasse mit Schranke. Die nicht öffentliche Zufahrt zum Lai da Curnera schlängelt sich der Bergflanke entlang und macht nach einer engen Kurve den Blick frei ins Curnera-Tal mit seiner 153 Meter hohen Staumauer.
Der Curnera-Stausee hat eine Oberfläche von 82 Hektaren und fasst insgesamt 41 Millionen Kubikmeter Wasser. Im Felsinnern erstreckt sich ein ausgeklügeltes Stollensystem zu zwei weiteren Speicherseen. Der Lai da Nalps befindet sich direkt im Nebental und der Lai da Santa Maria (Titelbild) flankiert die Lukmanierpassstrasse zwei Täler entfernt. Die drei Seen liegen über 1900 m ü. M. und gehören zur Kraftwerke Vorderrhein AG (Axpo-Anteil 81,5%). Strom produzieren die Kraftwerke im grossen Stil in den Zentralen Sedrun (151 MW) sowie Tavanasa (180 MW). Seit neustem nutzt Axpo zudem das Gefälle einer Überführungsleitung zur Stromproduktion. Die mittlere jährliche Jahresproduktion liegt bei rund 840 Millionen Kilowattstunden Strom, umgerechnet 840 Gigawattstunden (GWh).
Ziemlich genau 1400 Meter tiefer im Untergrund, unterhalb der Curnera-Staumauer, herrscht Durchzug. Mit 200 km/h sind die Personenzüge unterwegs in den zwei Röhren des 57 km langen Gotthard-Basistunnels. So schnell wie nirgendwo sonst in der Schweiz. Peter Lustenberger erinnert sich: «Während der NEAT-Bauzeit machten uns die mächtigen Tunnelbohrmaschinen Sorgen. Um Vibrationen und mögliche Auswirkungen auf die Talsperren zu erkennen, brachten wir vorsorglich Messsonden an den drei Staumauern an.»
Gut möglich, dass der Strom für diese rasanten Tunnelfahrten aus Wasserkraft stammt. Zumindest im Winter. Dann wird Wasser zu Gold und von Axpo wie ein Schatz gehütet. Während in der Schweiz Laufwasser- und Kernkraftwerke einen grossen Teil des täglichen Strombedarfs decken, spielen die Speicherseen zu Spitzenverbrauchszeiten und insbesondere im Winter eine wichtige Rolle. «In den Wintermonaten steigt der Stromverbrauch», sagt Peter Lustenberger. «Wasser aber wird rarer. Denn sobald sich Niederschlag erst mal als Schnee auf die Schweizer Berge legt, verflüssigt er sich erst im Frühling wieder.»
Als Einzugsgebiet nutzen die drei Speicherseen Curnera, Nalps und Santa Maria insgesamt 315,8 km2 des östlichen Gotthardmassivs. Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet die Alpen – Inbegriff der Schweizer Verteidigungsfähigkeit – im Winter einen Teil der Schweizer Stromversorgung aus erneuerbaren Energien sicherstellen. Die meisten Schweizer Speicherseen liegen im Alpenhauptkamm, der Rest in den Voralpen.
Die Ausgangslage ist so einfach wie komplex. Kann die Schweiz künftig mehr Wasser speichern, kann sie der ab 2025 drohenden Strommangellage im Winter aus eigenen Kräften besser entgegenwirken. Wie so oft stehen pragmatischen Lösungen indessen Partikularinteressen, ökologische Bedenken und ökonomische Hemmnisse im Weg.
Im Rahmen des «Runden Tisches Wasserkraft», an dem sich auf Einladung von Bundesrätin Simonetta Sommaruga im Herbst 2021 erstmals Vertreter der Kantone, Wirtschaft, Verwaltung und Verbände zusammengefunden haben, ringt die Schweiz nicht nur um ein gemeinsames Grundverständnis, sondern sucht auch konstruktive und konkrete Lösungen für eine höhere Winterstromproduktion durch Wasserkraft. Gesucht sind mindestens 2'000 Gigawattstunden zusätzlicher Winterstrom.
«Dabei fokussieren wir in einem ersten Schritt vor allem auf Staumauererhöhungen an bestehenden Kraftwerken», sagt Peter Lustenberger. Als Mitglied der Begleitgruppe Runder Tisch arbeitet er die Ausbauoptionen der Axpo aus. «Neben dem Kraftwerk Mattmark im Wallis sehen wir den grösstmöglichen Produktionsbeitrag beim Stausee-Trio Curnera, Nalps und Santa Maria.»
Um bis zu 20 Meter soll die Curnera-Staumauer erhöht werden, um jeweils sieben Meter geht es bei den Stauseen Nalps und Santa Maria. «20 Meter sind viel», betont Peter Lustenberger. «Vergleichbar mit einem Mehrfamilienhaus von sieben Stockwerken.» Die Erhöhung würde umgerechnet 45 Gigawattstunden Strom bringen. Ingenieure studieren dafür die Robustheit der Mauerkrone und Widerstandskraft des Grundablasses. Geologen prüfen die Undurchlässigkeit des Gesteins sowie Stabilität der Bergflanken. Ökonomen berechnen die Kosten für bauliche Anpassungen an der Hochwasserentlastung und den Wasserfassungen. «Gemeinsam mit Hydrologen klären wir aktuell ab, wie viel Wasser überhaupt aus dem östlichen Gotthardmassiv gesammelt werden kann.»
Die drei Stauseen der Kraftwerke Vorderrhein entstanden zwischen 1962 und 1968 und waren von Anfang an als Speichersee-Trio für Winterenergie und den Spitzenverbrauch vorgesehen. Während die Staumauern Curnera und Nalps in unbewohnten Seitentälern errichtet wurden, musste für die Aufstauung des Lai da Santa Maria die Lukmanierpassstrasse sowie das Hospiz und dessen Kapelle versetzt werden.
Die Infrastruktur am Lukmanierpass begrenzt auch heute die Staumauererhöhung auf sieben Meter. Das hat direkte Auswirkungen auf die Nalps-Staumauer. «Die beiden Seen sind per Freispiegelstollen verbunden und gleichen ihren Seepegel gegenseitig aus.» Ein um sieben Meter höherer Seepegel würde indes eine Mehrproduktion von 27 Gigawattstunden pro Stausee ermöglichen. So könnten die Kraftwerke Vorderrhein am «Runden Tisch Wasserkraft» insgesamt bis zu 99 Gigawattstunden zusätzlichen heimischen Winterstrom beisteuern. Das ist mehr Strom als die Stadt Genf verbraucht. Ob sich diese Investition indessen für Axpo rechnet, hängt auch von den Rahmenbedingungen ab.
Nicht nur höhere Staumauern zahlen aufs Konto der Versorgungssicherheit ein. Weil künftig jede Kilowattstunde zählt, nutzen die Kraftwerke Vorderrhein neuerdings auch das Wasser einer Überführungsleitung zwischen den Stauseen Curnera und Nalps zur Stromproduktion. «Die Idee, das Gefälle dieser Leitung zu nutzen, geisterte schon länger in unseren Köpfen herum», erinnert sich Peter Lustenberger. 2014 startete das Team mit der konkreten Planung und fand eine passende 2,5 MW-Turbine für die ausgesprochen engen Platzverhältnisse im Berginnern. Seit Anfang 2022 in Betrieb, wird das neue Kleinwasserkraftwerk pro Jahr bis zu 10 Millionen Kilowattstunden Strom produzieren und damit rund 2'200 Haushalte versorgen, eine Ortschaft in der Grössenordnung von Sedrun. Ein Tropfen auf den heissen Stein zwar nur, aber ein weiterer Beitrag an eine sichere Stromversorgung durch die heimische Wasserkraft.
Stausee Curnera (1956 m ü. M.):
Doppeltgekrümmte Bogenstaumauer: 153 m
Mauerkrone: 350 m
Seevolumen: 40,8 Mio. m3
Stausee Nalps (1908 m ü. M.):
Doppelgekrümmte Bogenstaumauer: 127 m
Mauerkrone: 480 m
Seevolumen: 44,5 Mio. m3
Stausee Santa Maria (1908 m ü. M.):
Doppeltgekrümmte Bogenstaumauer: 117 m
Mauerkrone: 560 m
Seevolumen: 67 Mio. m3
Zentrale Sedrun: Peltonturbinen 3 x 50 MW
Zentrale Tavanasa: Peltonturbinen 4 x 45 MW
Kleinwasserkraftwerk Curnera: Francisturbine 1 x 2,5 MW
Mittlere jährliche Produktion: 840 Mio. kWh (840 GWh)
Kostenfreie Gruppenführungen finden nach Anmeldung (ab 8 Personen) jeden Donnerstag statt und können direkt über Telefonnummer +41 (0)81 920 40 30 (Sedrun Disentis Tourismus) gebucht werden.