09.12.2024 | Paradigmenwechsel in der EU-Energiepolitik?
Der 24. Februar 2022 markiert einen Paradigmenwechsel im geopolitischen Gefüge Europas. Unter anderem hat der Krieg in der Ukraine zu grundlegenden Veränderungen der europäischen Energieversorgung geführt. Auslöser waren die Sprengung von Nord Stream 1 und 2 und die Unterbrechung wichtiger Gaslieferungen, die zu einem beispiellosen Anstieg der Energiepreise geführt haben. Die EU und die Mitgliedsstaaten haben hierauf mit massiven staatlichen Markteingriffen einschliesslich der Verstaatlichung systemrelevanter europäischer Energieunternehmen reagiert. Im Ergebnis wurde russisches Pipelinegas durch transatlantische LNG-Lieferung ersetzt.
Während sich die EU und die EU-Mitgliedstaaten in den Jahren 2022 und 2023 auf Notstandsgesetze konzentrierten, um die Stromversorgung aufrechtzuerhalten, erwarten wir, dass sich unter der neuen Europäischen Kommission ein strategischerer Ansatz für die Versorgungssicherheit herausbilden wird.
Das neue geopolitische Umfeld hat die Zusammensetzung der neuen Europäischen Kommission beeinflusst, die seit dem 1. Dezember 2024 im Amt ist. Und es wird sich wahrscheinlich in der Gesetzgebung widerspiegeln, die die Europäische Kommission in der neuen fünfjährigen Legislaturperiode, die mit den Europawahlen im Juni 2024 beginnt, vorschlagen wird.
Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament kam es zu einer Machtverschiebung von mitte-links nach mitte-rechts: Die christdemokratische EVP und die Parteien rechts von ihr - EKR, PfE und ESN – haben auf Kosten der liberalen Partei RenewEurope und der Grünen Sitze gewonnen. Nachdem sie sich im Juli die Unterstützung der EU-Mitgliedstaaten und des Europäischen Parlaments gesichert hatte, stellte die amtierende Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen das Organigramm für ihre nächste Europäische Kommission («Leyen II“) vor. Am 27. November 2024 wurde diese vom Europäischen Parlament mit lediglich 370 von 720 möglichen Stimmen angenommen.
Angesichts der durch den Krieg in der Ukraine offengelegten Ineffizienzen der Rüstungsproduktion in der EU wurde erstmalig ein EU-Kommissar für Verteidigung (und Raumfahrt) eingeführt. Damit will die Europäische Union Synergien zwischen den Verteidigungsindustrien der 27 EU-Mitgliedstaaten schaffen und der Kritik des neu gewählten US-Präsidenten Donald Trump an den zu niedrigen Verteidigungsetats vieler westeuropäischer EU-Mitgliedsstaaten entgegentreten. Der neu geschaffene Posten wird von Andrius Kubelius, einem konservativen Politiker aus Litauen, bekleidet.
Kaja Kallas, eine liberale Politikerin aus Estland, wird die nächste EU-Aussenministerin sein, deren offizieller Titel «Hoher Vertreter der Union für Aussen- und Sicherheitspolitik» lautet. Sie gilt als aussenpolitischer Falke und hat gemäss ihrem „Mission Letter“ - der individuellen Stellenbeschreibung - den Auftrag, eine „echte europäische Verteidigungsunion“ zu schaffen.
Dan Jørgensen, dänischer Sozialdemokrat und künftiger Kommissar für Energie (und Wohnungsbau), soll mit einem sogenannten Elektrifizierungs-Aktionsplan dafür sorgen, dass die EU-Klimaneutralität auf der Grundlage von sauberem, in der EU erzeugtem Strom erreicht. Parallel dazu soll er eine Strategie für die Beendigung russischer Energieimporte entwickeln. Sein Mission Letter beinhaltet auch die Überarbeitung der Regeln der EU zur Versorgungssicherheit im Hinblick auf die veränderte geopolitische Lage und zur besseren Abwehr von Cyberangriffen sowie zum Schutz kritischer Infrastruktur.
Eines der Kernelemente des Wahlprogramms von Ursula von der Leyen («Political Guidelines 2024 – 2029» vom 18. Juli 2024), ist der sogenannte «Clean Industrial Deal»: Dieser Deal soll den «European Green Deal», also Klimaneutralität bis 2050, mit mehr Wettbewerbsfähigkeit und dem Erhalt von Arbeitsplätzen in der EU verbinden. Der Clean Industrial Deal soll bessere Rahmenbedingungen für Unternehmen schaffen und die Versorgung mit preiswerter, billiger, nachhaltiger und sicherer Energie sicherstellen. Derzeit ist unklar, was sich konkret hinter dem Schlagwort Clean Industrial Deal verbirgt. Gemäss von der Leyen soll die Europäische Kommission innerhalb der ersten 100 Tage ihrer Amtszeit, also im März 2025, Vorschläge zum Clean Industrial Deal veröffentlichen.
Die Dienststellen der Europäischen Kommission haben die Übergangsphase zwischen Leyen I und II zur Erarbeitung zukünftiger Rechtsvorschriften genutzt. Im Hinblick auf die Verbesserung der Versorgungssicherheit im Energiebereich führte die Generaldirektion Energie (GD ENER) bis zum 26. November 2024 eine Vernehmlassung durch, den Fitness-Check der EU-Energiesicherheit.
Der derzeitige Rechtsrahmen der EU zur Energieversorgungssicherheit beruht im Wesentlichen auf der EU-Verordnung über die Gasversorgungssicherheit und die EU-Verordnung über die Risikovorsorge im Elektrizitätssektor. Diese beiden Gesetze wurden 2017 bzw. 2019 verabschiedet. Entsprechend geht die Europäische Kommission geht davon aus, dass ein sogenannter „Fitness-Check“ erforderlich ist, um Lehren aus der COVID-19-Pandemie und der Energiekrise 2022 zu ziehen und die EU auf Veränderungen in der globalen Energiewirtschaft vorzubereiten.
Zudem wurden die Vernehmlassungsteilnehmer gebeten, sich zu 14 Megatrends zu äussern, die von der Gemeinsamen Forschungsstelle (JRC) der Europäischen Kommission ermittelt wurden. Das JRC ist die unabhängige wissenschaftliche Beratungsstelle der EU.
Im Rahmen der Vernehmlassung zur Energiesicherheit wurde auch die Zusammenarbeit der Europäischen Union mit ihren Nachbarländern bewertet, wie z. B. den Vertragsparteien der «Energy Community», einer supranationalen Energieorganisation, der Länder in Südosteuropa sowie Georgien, Moldawien und die Ukraine angehören.
Aus Sicht der Axpo war die Vernehmlassung eine wertvolle Gelegenheit, um auf die wichtige Rolle der Schweizer Energiewirtschaft für das kontinentaleuropäische Energiesystem hinzuweisen. Im Hinblick auf Stromimporte (und darüber hinaus) sollte klar zwischen bestens vernetzten Ländern wie der Schweiz einerseits, und Drittstaaten andererseits, unterschieden werden: Die Energiepolitik der Schweiz und der EU verfolgen dieselben Ziele. Insbesondere während der Energiekrise – aber auch zuvor - wurden gesetzgeberischer Vorstösse der EU zeitnah durch die Schweiz nachvollzogen. Zum beiderseitigen Vorteil von Schweiz und EU sollte die (zukünftige) Energiesicherheitsarchitektur der EU daher eine vertiefte Zusammenarbeit mit der Schweiz beinhalten.
Angesichts der zentralen geografischen Lage der Schweiz in Europa und ihrer Funktion als Stromdrehscheibe im (kontinental)europäischen Verbundsystem und beim transeuropäischen Gas- und (zukünftigen) Wasserstofftransport, ist die Zusammenarbeit von Schweiz und EU entscheidend für die Gewährleistung der europäischen Versorgungssicherheit. Dies gilt insbesondere angesichts neuer Herausforderungen im Zusammenhang mit der Diversifizierung der Gaslieferländer, der Dekarbonisierung, der Anpassung an den Klimawandel und der zunehmenden Elektrifizierung.
Mit der EU-Verordnung über die Gasversorgungssicherheit wurde ein Solidaritätsmechanismus für schwere Gasmangellage eingeführt. Der Solidaritätsmechanismus soll sicherstellen, dass sogenannte geschützte Kunden, wie Haushalte und Krankenhäuser, auch im Falle einer Gasmangellage mit Erdgas versorgt werden. Die EU-Mitgliedstaaten sind entsprechend gehalten, die erforderlichen grenzüberschreitenden Vereinbarungen (technischer, rechtlicher und finanzieller Art) zu treffen, damit im Notfall Erdgas grenzübergreifend von sonstigen Kunden zu geschützten Kunden fliesst.
Bislang wurden nur 10 solcher Gassolidaritätsabkommen zwischen EU-Mitgliedstaaten geschlossen. Das Jüngste davon ist ein trilaterales Gassolidaritätsabkommen zwischen Deutschland und Italien unter Einbindung der Schweiz: Es wurde im März 2024 unterzeichnet und stellt ein zusätzliches Instrument zur Sicherstellung der Versorgung geschützter Kunden in diesen drei Ländern dar. Es verschafft der Schweiz Zugang zu Gasspeichern in Italien und Deutschland; mangels geeigneter Geologie verfügt die Schweiz über keine eigenen Gasspeicher. Gleichzeitig schliesst die Transitgas-Pipeline durch die Schweiz die Lücke zwischen Deutschland und Italien, so dass sich die komplementäre Erdgasbeschaffung dieser Länder im Notfall ergänzen kann.
Dank seiner 41 Grenzkuppelstellen mit den EU-Anrainerstaaten ist das Schweizer Stromnetz ein organischer Teil des (kontinental)europäischen Verbundsystem. Leider spiegelt sich diese physische Integration nicht im institutionellen Gefüge wider. Die zunehmende Vertiefung und Integration des EU-Strombinnenmarktes stellt das Schweizer Stromsystem zunehmend vor operative Herausforderungen.
Im November 2024 haben sich die Übertragungsnetzbetreiber und die Elektrizitätsregulierungsbehörden der Schweiz und der Kapazitätsberechnungsregion „Core“ auf die Einbeziehung des Schweizer Stromsystems in die regionalen grenzüberschreitenden Kapazitätsberechnungen geeinigt. Die Vereinbarung wird die Netzstabilität in der gesamten Region und an der Nordgrenze der Schweiz verbessern. Die Core-Region spielt für die deutsch-französischen Stromlieferungen eine wichtige Rolle und umfasst 13 EU-Mitgliedstaaten: Österreich, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, die Niederlande, Belgien, Polen, die Tschechische Republik, Ungarn, die Slowakei, Slowenien, Kroatien und Rumänien.
Das Abkommen ist insbesondere im Hinblick auf die bevorstehende Einführung der sogenannten „70%-Regel“ im Rahmen des sogenannten Clean Energy Packages der EU aus dem Jahr 2019 von Bedeutung: Die 70%-Regel gilt ab dem 1. Januar 2026 und sieht vor, dass die EU-Mitgliedstaaten mindestens 70% der grenzüberschreitenden Kapazität für den grenzüberschreitenden Stromhandel zur Verfügung stellen müssen. Ohne den Einbezug der Schweiz hätte die 70%-Regel zu ungeplanten Stromflüssen im Schweizer Netz und zu reduzierten Import- und Exportkapazitäten und damit zu einer Verschlechterung der Versorgungssicherheit führen können. Leider ist das Abkommen nur eine Zwischenlösung bis zum Abschluss und der Umsetzung eines Stromabkommens zwischen der Schweiz und der EU.
Ziel der Vernehmlassung ist die Bewertung des EU-Rahmens für die Energieversorgungssicherheit im Hinblick auf aktuelle und zukünftige Herausforderungen.
Diese Verordnung legt Regeln zur Sicherung der Gasversorgung in der EU fest, wobei der Schwerpunkt auf Vorbeugung, Infrastrukturstandards und koordinierten Reaktionen auf Unterbrechungen liegt.
Diese Verordnung beauftragt die EU-Mitgliedstaaten mit der Vorbereitung und Koordinierung von Massnahmen zur Verhinderung von Stromkrisen und zur Begrenzung der grenzüberschreitenden Auswirkungen.
Diese Gemeinschaft fördert die Zusammenarbeit zwischen der EU und ihren Nachbarländern im Energiebereich und konzentriert sich dabei auf die Marktintegration, die Energiesicherheit und die Umsetzung des EU-Energierechts in Nicht-EU-Ländern.