16.02.2022 | Erfolg im Energiehandel gibt es nur mit ausreichender Liquidität
Der drastische Anstieg der Grosshandelspreise für Strom und Gas hat jüngst bei manchen Marktteilnehmern im Energiehandel zu Turbulenzen geführt. Martin Koller, Head Strategy & Energy Economics bei Axpo, ordnet die Situation ein und erklärt, welche Sicherheiten die einzelnen Marktteilnehmer bei Termingeschäften hinterlegen müssen, mit welchen Preisen mittel- bis langfristig gerechnet wird und warum Axpo die aussergewöhnliche Lage gut meistern konnte.
Die Grosshandelspreise für Strom und Gas befinden sich seit Monaten auf einem sehr hohen Niveau. Was ist passiert, dass es zu diesem drastischen Anstieg gekommen ist?
Martin Koller: Da sind im vergangenen Jahr viele Dinge zusammengekommen. Es begann mit einem stärker als erwarteten Wirtschaftsaufschwung nach Corona, insbesondere auch in China, wo gleichzeitig der Kohleabbau unattraktiver gemacht wurde. In der Folge trat China international als Käufer von Kohle und Gas auf, was zu einem Anstieg der Preise geführt hat. Ein schwaches Windjahr sorgte in Grossbritannien dafür, dass mehr Gas als üblich gebraucht wurde. Dann wurden die Gasspeicher im vergangenen Sommer eher zögerlich gefüllt, gerade diejenigen von Gazprom. Schliesslich haben geopolitische Spannungen für Preisaufschläge und auch hohe Volatilität gesorgt. Parallel zu all dem liessen Erwartungen an eine strengere Klimaregulierung in Europa den CO2-Preis stark ansteigen. In den ersten Wochen des Jahres hat es an der Preisfront eine leichte Entspannung gegeben, was auch mit dem bislang eher milden Winter in Europa zusammenhängt..
Eigentlich müsste der Preisanstieg für die Energieproduzenten positiv sein, dennoch liest man immer wieder von Liquiditätsproblemen bei einzelnen Unternehmen – warum?
Der Preisanstieg ist für Energieproduzenten auf jeden Fall positiv, gerade für die Betreiber von Wasser- und Kernkraftwerken. Da der Strom jedoch in der Regel ein paar Jahre im Voraus auf Termin verkauft wird, macht sich der Preisanstieg für die Erzeuger nur mit Verzögerung positiv bemerkbar. Hinzu kommt, dass diese Terminverkäufe die Eigenschaft haben, dass zwischenzeitlich Sicherheiten gestellt werden müssen in Form von Liquidität.
Wie läuft das genau ab?
Verkauft ein Produzent Energie auf Termin und der Preis steigt vor der Energielieferung um 20 Euro an, muss er grundsätzlich diese 20 Euro als Sicherheit stellen. Das ist die so genannte «variation margin», die den Betrag umfasst, der für die Gegenpartei nun im Risiko steht. Bei Auslieferung der Energie erhält der Erzeuger die Sicherheit zurück. Beim Verkauf über die Börse muss zusätzlich bereits im Voraus eine so genannte «initial margin» gestellt werden für den Fall, dass der Preis im Lauf der Zeit bis zur Lieferung des Stroms steigen könnte. Dadurch, dass die Preise Ende 2021 so schnell gestiegen sind und zusätzlich die Volatilität der Preise extrem hoch war, wurden in recht kurzer Zeit für viele Stromverkäufer sowohl hohe «variation margins» als auch hohe «initial margins» fällig. Das hatte es in dieser Form zuvor noch nie gegeben.
Wenn man das so hört, kommen schnell Parallelen zur Bankenkrise auf. Laufen wir gerade in eine analoge Energiekrise?
Nein. Bei den Banken ging es darum, dass sie auf falsche Anlagen gesetzt hatten, deren Werte massiv verloren haben. In der Energiebranche war jetzt sozusagen das Gegenteil der Fall: Die Kraftwerke gewinnen aufgrund der gestiegenen Preise an Wert. Die Herausforderungen auf der Liquiditätsseite sind der Börsenregulierung geschuldet, da plötzlich viel mehr Sicherheiten hinterlegt werden müssen. Diese erhalten die Marktteilnehmer im Energiehandel aber wieder zurück, sobald sie den Strom geliefert haben. Das Geld liegt quasi nur auf einem Sperrkonto bis zur Erfüllung des Vertrags. Es handelt sich hier also nicht um ein Profitabilitätsproblem, ganz im Gegenteil. Die Analogie zum Bankensektor ist definitiv fehl am Platz.
Was müsste getan werden, damit den Unternehmen im Energiehandel eine solche Situation in Zukunft nicht mehr droht?
Das System mit dem Hinterlegen von Sicherheiten hat absolut seine Berechtigung, da es Markteilnehmer vor finanziellem Schaden bewahrt für den Fall, dass ein anderer Teilnehmer ausfallen sollte. Bei extremen Ausschlägen in den Preisen, wie wir sie insbesondere rund um Weihnachten gesehen haben, werden jedoch hohe Beträge als Sicherheit fällig. Dies ist logisch konsequent, sollte jedoch nicht so weit gehen, dass dadurch gesunden Unternehmen die Liquidität ausgeht. Vielleicht braucht es bei extremen Preissprüngen ein System, das den Beteiligten etwas mehr Zeit einräumt – die Herausforderung ist, dass dies nicht auf Kosten des Schutzes der anderen Marktteilnehmer gehen darf.
War das eine einmalige Situation oder werden die Strompreise jetzt immer so hoch bleiben?
Der Markt ist sich gegenwärtig einig, dass Preise deutlich über 100 EUR/MWh nicht die neue Normalität darstellen. Es wird allgemein erwartet, dass sie mittel- bis langfristig wieder sinken. Allerdings ist das Niveau, auf dem sich gemäss Einschätzung des Marktes die Preise langfristig einpendeln dürften, in den vergangenen Monaten ebenfalls spürbar angestiegen. Beispielsweise in Deutschland von 60 EUR/MWh im August auf jetzt über 80 EUR/MWh.
Warum ist das so?
Neben den gestiegenen Terminpreisen für Kohle und Gas geht es hier auch um strukturelle Faktoren, etwa die Erwartungen einer strengeren CO2-Regulierung. Interessant ist aber, dass die höheren Langfristpreise kein gesamteuropäisches Phänomen sind. In Spanien und den nordeuropäischen Märkten zum Beispiel wird das langfristige Preisniveau deutlich tiefer erwartet, bei unter 40 EUR/MWh. Hier wird spannend sein, ob es bei dieser Spreizung bleibt oder ob doch wieder eine Konvergenz einsetzt.
Was würde passieren, wenn die Situation mit den hohen Preisen so bleibt und deshalb ein Versorger Bankrott geht, weil er sich kein Geld mehr beschaffen kann – wäre dann in letzter Konsequenz die Versorgungssicherheit bedroht?
Konstant hohe Preise wären ja im Prinzip die beste aller Welten für die Finanzen eines Energieproduzenten. Aber eine starke Preisspitze gepaart mit hoher Marktvolatilität könnte auch in Zukunft bei einzelnen Versorgern Liquiditätsprobleme auslösen. Grundsätzlich sind solche Situationen zwar herausfordernd, gleichzeitig stehen den Unternehmen zum heutigen Zeitpunkt aber diverse Finanzierungsquellen offen. Selbst wenn dies künftig nicht mehr der Fall sein sollte, gibt es zumindest bei den grossen Schweizer Partnerwerken den Mechanismus, dass dann ein anderer Partner als Betriebsführer einspringt. Auch im Ausland bin ich optimistisch – die Kraftwerke selbst machen ja Gewinne, wenn der Preis hoch ist. Sollte ein Betreiber dennoch aus Liquiditätsgründen ausfallen, könnte das Kraftwerk längst vor dem Verkauf an neue Eigentümer von Dritten weiterbetrieben werden. Liquiditätsprobleme oder der Ausfall eines Marktteilnehmers dürften also kaum zu Versorgungsausfällen und schon gar nicht zu längerfristigen Mangellagen führen.
Offensichtlich ist Axpo in Sachen Liquidität gut aufgestellt, richtig?
Axpo hat in den vergangenen Jahren gute Ergebnisse erzielt und konnte per 30. September 2021 mit einer hohen Liquidität von rund 4.3 Mrd. CHF in das neue Geschäftsjahr starten. Hier zahlen sich die Umsichtigkeit unserer Finanzplanung und unsere Strategie aus.
Inwiefern?
Axpo war jederzeit in der Lage, den erhöhten Finanzierungsbedarf für den Handel aus eigener Kraft sicherzustellen. Dank der jüngsten Erweiterung unserer Finanzierungsstruktur mit Hilfe eines Sustainability-Linked Bonds und einer neuen Kreditlinie haben wir uns ausserdem zusätzlichen finanziellen Handlungsspielraum für das laufende Geschäft und die grossen Investitionsvorhaben der kommenden Jahre verschafft. Bei den Investitionsvorhaben setzen wir auf eine Asset-light Strategie, was weniger Mittel bindet.
Bei der «variation margin» im Energiehandel über die Börse handelt es sich um die täglichen Einschusszahlungen der Energiehändler an ein Clearing House, wie dies etwa bei der European Commodity Clearing AG der Fall ist. Die «variation margin» gleicht bei jedem Teilnehmer im Energiehandel täglich die Veränderung des Marktwerts der offenen Position gegenüber dem Einstandspreis («mark-to-market») aus. Wenn sich der Marktwert positiv entwickelt, erhält der Käufer die Differenz gutgeschrieben – im negativen Fall muss er den Betrag der Gegenpartei zukommen lassen. Der tägliche Ausgleich minimiert somit das Ausfallrisiko.
Die «initial margin» ist ein von der Clearingstelle geforderter Mindestbetrag, den jeder Marktteilnehmer vor einer Handelstransaktion bereitstellen muss. So sichert sich die Clearingstelle gegen den Ausfall eines Vertragspartners ab. Die «initial margin» ist mit einer Versicherungsprämie vergleichbar, die für die einzelnen Marktteilnehmer sicherstellt, dass der Vertrag erfüllt wird.
Bei bilateralen Energiehandelsverträgen, die nicht über die Börse abgeschlossen werden, kommen in der Regel Instrumente ähnlich der «variation margin» zum Einsatz, eine «initial margin» jedoch meist nicht.