31.10.2024 | Netzstabilität als Herausforderung
Mit der klaren Zustimmung zum Stromgesetz am 9. Juni 2024 hat sich die Schweizer Stimmbevölkerung für einen ambitionierten Zubau erneuerbarer Energien ausgesprochen. Der voraussichtlich massive Ausbau fluktuierender Stromproduktion, insbesondere der Solarenergie, stellt für die System- und Netzstabilität allerdings eine Herausforderung dar. Liefert das Stromgesetz die notwendigen Rahmenbedingungen zur Integration der Solarenergie? Einige wichtige Instrumente wurden geschaffen, andere aber fehlen. Eine Übersicht.
Das im Juni angenommene Stromgesetz sieht bis 2035 einen Ausbau der erneuerbaren Energien (ohne Wasserkraft) auf 35 TWh Jahresproduktion vor. Um diese Jahresproduktion mit Solaranlagen zu erreichen, bräuchte es die Installation von rund 35 GW Solarkapazität (Annahme: 1000 Volllaststunden) resp. 3.5 Mio. Klein-Solaranlagen mit 10kW Leistung. Speisen alle diese Anlagen an einem sonnigen Sommertag gleichzeitig mit voller Leistung ein, ergibt das eine massive Belastung für das Stromnetz. Die Spitze ist dabei mehr als 3 Mal so gross wie die aktuelle, maximale Verbrauchspitze von etwa 10 GW. Dieser Strom müsste kurzfristig transportiert werden und entsprechende Abnehmer finden.
Die hohen zukünftigen Einspeisespitzen und die zusätzlichen Schwankungen im System stellen eine Herausforderung für den Netzbetrieb dar. Bereits im laufenden Jahr musste die Übertragungsnetzbetreiberin Swissgrid zeitweise mit fast 1.4 GW Reserven, sog. Regelleistung, eingreifen, um die Netzstabilität aufrecht zu erhalten. Das ist sehr viel und erhöht die Kosten für die Verbraucher, wobei sich das Problem mit dem schnellen Zubau Solarenergie weiter verschärfen wird. Eine Lösung ist nicht nur, einseitig kleine Solaranlagen zuzubauen, sondern mit einem Mix verschiedener Technologien, insbesondere auch der Windenergie, ein ausgeglicheneres Produktionsprofil zu erreichen. Zusätzlich braucht es aber in jedem Fall die bessere Nutzung von Produktions- und Verbrauchsflexibilität, um Spitzen zu brechen und auf kurzfristige Schwankungen zu reagieren. Das Stromgesetz setzt den Rahmen, um diese Flexibilitäten zu erschliessen.
Mit dem Stromgesetz erhalten Verteilnetzbetreiber neu das Recht, die Einspeisung von Produktionsanlagen am Anschlusspunkt zu einem «bestimmten Anteil» abzuregeln, d.h. nur einen gewissen Teil der maximal möglichen Produktionsleistung abzunehmen. Solaranlagen produzieren nur in sehr wenigen Stunden pro Jahr mit voller Leistung, belasten in diesen Stunden aber das Netz sehr stark. Durch dieses sog. «Peak-Shaving» können Verteilnetzbetreiber die hohen Spitzenbelastungen im Netz verhindern. Was unter dem gesetzlich vorgesehenen «bestimmten Anteil» genau zu verstehen ist, wird die voraussichtlich im November vom Bundesrat verabschiedete Verordnung final definieren. Gemäss Vernehmlassungsentwurf der Verordnung sollen maximal 3% der Jahresproduktion abgeregelt werden können, was ungefähr einer konstanten Beschränkung von Solaranlagen auf 70% ihrer Maximalleistung entspricht. Die damit verbundenen Ertragseinbussen wären dabei sogar unter 3%, da die Beschränkung insbesondere im Sommer mit tiefen Marktpreisen zum Tragen kommt.
Generell wird im Stromgesetz eine klarere Bestimmung bezüglich der Nutzung von Flexibilität - die Fähigkeit, Produktion oder den Verbrauch nach Bedarf gezielt zu steuern - eingeführt. Kern ist dabei, dass die jeweiligen Endverbraucher, Produktionsanlagen und Speicher selbst Inhaber ihrer Flexibilität sind. Sie können ihre Flexibilität an Verteilnetzbetreiber und andere Akteure weitergeben, welche sich diese durch entsprechende Verträge erschliessen müssen. Beispielsweise kann das Laden der Elektroautos über sog. Pooler als Flexibilitäts-Dienstleistung für das Übertragungsnetz angeboten werden. Abweichend von diesem Grundsatz haben Verteilnetzbetreiber das Anrecht auf gewisse garantierte Nutzungen der Flexibilität, wie beispielsweise das oben erwähnte Peak-Shaving.
Ebenfalls liefert das Stromgesetz die Grundlage für die breitere Anwendung von dynamischen Netztarifen. Interessanterweise ist dies auf die Änderung eines einzigen Wortes im Stromversorgungsgesetz zurückzuführen: Die Netznutzungstarife müssen gemäss Art. 14 neu nicht mehr «einfach» sein, sondern nur noch «nachvollziehbar». Darauf basierend wird die überarbeitete Stromversorgungsverordnung voraussichtlich explizit dynamische Netznutzungstarife als möglichen Standardtarif vorsehen. Mehr Spielraum erhalten Verteilnetzbetreiber mit dem vermehrten Einsatz von sog. Leistungstarifen, welche mit den Verbrauchsspitzen ansteigen und dadurch Anreize geben, den Maximalverbrauch zu senken.
Gewisse Stimmen sehen eine bessere Integration von Flexibilität auch mit den per Stromgesetz eingeführten lokalen Elektrizitätsgemeinschaften (LEG). Mit LEG können Verbraucher und Produzenten neu unter Verwendung des öffentlichen Netzes Strom untereinander austauschen und erhalten für den intern ausgetauschten Strom einen Abschlag auf das Netznutzungsentgelt. LEG könnten gewisse Anreize liefern, Verbrauch und Produktion besser zeitlich abzustimmen. Man darf aber auch etwas skeptisch sein, ob der Stromaustausch in den LEG ohne flankierende Massnahmen letztlich den Bedarf für Netzausbau reduzieren kann. Beispielsweise könnten am eingangs beschriebenen sonnigen Sommertag die LEGs trotzdem zu voller Produktionsleistung ins Netz einspeisen. Dann würden die LEG den Netzausbaubedarf nicht reduzieren, sondern durch den Abschlag auf das Netznutzungsentgelt in erster Linie die Netzkosten auf alle anderen Verbraucher verlagern. Eine sehr ähnliche Problematik ergibt sich auch bei sog. virtuellen Zusammenschlüssen zum Eigenverbrauch, die der Bundesrat gemäss Stromgesetz neu erlauben kann (im Gegensatz zu bestehenden Zusammenschlüssen zum Eigenverbrauch dürfen diese auch die Anschlussleitungen mitbenutzen).
Mit Blick auf die Netzstabilität ist zentral, dass die kurzfristigen Preissignale bei allen Produzenten ankommen. Eine negative Wirkung könnte in diesem Sinne die per Stromgesetz eingeführte schweizweit harmonisierte (Mindest-)Rückliefervergütung für erneuerbare Energien ausüben. Eine Mindestrückliefervergütung bietet zwar für Klein-Produzenten mehr Investitionssicherheit. Sie führt aber auch dazu, dass sich eine Stromeinspeisung selbst dann noch lohnt, wenn eigentlich ein Überangebot am Markt mit negativen Strompreisen herrscht. Typischerweise ist das Stromnetz auch dann am meisten belastet. Diese Fehlanreize werden zusammen mit der wachsenden Anzahl Klein-Anlagen immer mehr zum Problem werden.
Die Integration erneuerbarer Energie erfordert insbesondere auch zusätzliche Flexibilität auf der Verbraucherseite. Hierbei wurde allerdings mit dem Stromgesetz die Chance verpasst, den Strommarkt endlich für alle Verbraucher zu öffnen. Die Folge ist, dass Kleinverbraucher weiterhin an die regulierten Stromtarife ihres lokalen Versorgers gebunden sind. Somit können sie beispielsweise nicht auf dynamische Stromprodukte anderer Anbieter zugreifen, mit denen sie durch die zeitliche Steuerung ihres Verbrauchs von tiefen Marktpreisen profitieren können. Die Standardtarife in der Grundversorgung sind gemäss Gesetz auf Jahresbasis zu fixieren und beinhalten damit gewissermassen die gleichen Fehlanreize wie eine Mindestrückliefervergütung auf der Produktionsseite.
Eine vollständige Marktöffnung würde auch für Stromversorger die Anreize erhöhen, ihre mit der Solarproduktion verbundenen Prognosen zu verbessern. Haben Lieferanten (resp. Bilanzgruppen) kurzfristig zu wenig oder zu viel Strom, müssen sie Swissgrid für diese Unausgeglichenheit diesen Strom und eine Pönale zahlen. Diese teils sehr hohen Kosten können sie heute im regulierten Bereich der Grundversorgung einfach an die gebundenen Kunden weiterreichen.
Insgesamt beinhaltet das Stromgesetz also vor allem eine klarere Regelung zur Nutzung von Flexibilität und einige wichtige Instrumente zuhanden der Verteilnetzbetreiber. Die Herausforderung für die Verteilnetzbetreiber in der Umsetzung wird sein, diese Instrumente flächendecken und praktikabel für alle Verbraucher einzusetzen. Bezüglich Peak-Shaving wird man wohl vorerst nicht um eine pauschale Abregelung der Leistung am Netzanschlusspunkt herumkommen, zumal sich die unzähligen Klein-Solaranlagen nicht dynamisch steuern lassen. Hier liegt der Ball beim Bundesrat, um in der Verordnung eine praxistaugliche Umsetzung zu definieren. Auch bei der Implementierung von hoch-dynamischen Netztarifen gibt es einige Hürden. Es braucht eine entsprechende Messinfrastruktur inkl. einfacher User-Interfaces, aber letztlich vor allem die Akzeptanz der Verbraucher, welche mit zusätzlicher Komplexität in ihrer Stromrechnung konfrontiert werden.
Bezüglich des Verhaltens von Kleinverbrauchern und -produzenten bleibt allerdings noch einiges zu tun. Die Politik hat sich durch Ablehnung einer Marktöffnung und der Einführung einer Mindestrückliefervergütung entschieden, den Themen Investitionssicherheit und Preisstabilität den Vorrang einzuräumen. Das bedeutet aber im Gegenzug, dass keine Echtzeit-Marktpreissignale bei den Kleinverbrauchern und -produzenten ankommen. Lösungen, die diesen Spagat zwischen Preisstabilität und Preissignalen schaffen, sind nicht ganz einfach zu finden. Denkbar wäre es beispielsweise, nur für eine gewissen Strommenge stabile Preise und Rückliefervergütungen vorzusehen, während bei den verbleibenden Bezugs- oder Produktionsmengen dynamische Preise verwendet werden und damit die Marktsignale wirken.
Mit Blick auf den fortschreitenden Ausbau der Solarenergie wird es letztlich unabdingbar werden, dass auch alle kleineren Akteure einen Anreiz erhalten, ihr Verhalten im Sinne des Gesamtsystems anzupassen. Die zusätzlichen Schwankungen im System bedeutet aber nicht nur Herausforderungen für die Netzstabilität, sondern bietet auch Opportunitäten für Produzenten und Verbraucher. Durch Lösungen wie die vollständige Marktöffnung könnten beispielsweise auch die Haushalte ihre Flexibilität zusätzlich gewinnbringend einzusetzen. Oder anders gesagt: Wer würde nicht gerne sein Elektroauto zukünftig am Mittag kostenlos laden und damit noch Gutes tun?